Reihe: Wissen im September 2016
Mit Ende des Ersten Weltkrieges brach die österreichische Monarchie endgültig zusammen. Der letzte Kaiser Karl I. – Beobachter nannten ihn aufgrund seiner unerwarteten und teilweise skurrilen Entscheidungen in den letzten zwei Jahren, in denen er an der Macht war, auch Karl den „Plötzlichen“ – dankte nolens volens und typisch österreichisch mit einem „Hintertürl“ ab und am nächsten Tag, dem 12. November 1918 wurde die Republik „Deutschösterreich“ – später Österreich – ausgerufen. Trotz einer sich seit 1867 mehr und mehr demokratisierenden Verfassung war der Kaiser mit großem Abstand die mächtigste Institution im Land und hielt im Wesentlichen alle Fäden in der Hand. Zum Schluss – im Ersten Weltkrieg – stand er an der Spitze eines Regimes, das sich am besten als Militärdiktatur umschreiben lässt.
Die unmittelbare Nachkriegszeit und die gesamte Erste Republik bestimmten drei politische Kräfte, die im Wesentlichen gleich stark waren: Die Deutschnationalen als kleinste Kraft; die Christlich-soziale Partei der Christdemokraten und Konservativen; und schließlich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs – SDAPÖ – die bei der ersten bedingungslos demokratischen, gleichen und geheimen Männer- und Frauenwahl in Österreich zur Konstituierenden Nationalversammlung die Nase vorne haben sollte.
Und die Sozialdemokraten waren auch die einzigen, die auf den Zusammenbruch der Monarchie und die nachfolgenden Wirren wirklich vorbereitet waren und ein tragbares Konzept für den zukünftigen Staat vorweisen konnten. Nämlich:
Ausrufung einer Republik, in der das Recht vom Volk ausgeht. Will heißen: Parlamentarische Demokratie bürgerlich-liberaler Prägung;
Mit der Ausnahme des Anschlusses an das Deutsche Reich – den die Alliierten im Staatsvertrag von St. Germain 1919 verboten hatten – konnten all diese Punkte in beeindruckender Manier umgesetzt werden. Der Chefideologe der Partei Otto Bauer und der Sozialreformer Ferdinand Hanusch sollten ihre Handschrift hinterlassen.
Und dennoch liest sich die demokratische Verfassung von 1920 durchaus auch als Kompromiss zwischen Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen, die eine Koalition bildeten. Die Konservativen konnten im Wesentlichen die genannten Punkte mittragen und sicherten sich gleichzeitig ihre ländlichen Machtbasen. Dies gelang insbesondere durch die Abtrennung der Bundeshauptstadt Wien vom Land Niederösterreich. Vor allem setzte die christlich-soziale Seite durch, dass Österreich als Bundesstaat eingerichtet wurde. Chefverhandler der Verfassung waren auf sozialdemokratischer Seite Karl Renner – der doppelte Staatsgründer, nach 1945 sollte er nochmals antreten – und auf konservativer Seite Michael Mayr, der am 1. Juli 1920 Renner im Amt des Staatskanzlers – heute Bundeskanzlers - nachgefolgt war.
Konzipiert wurde die Verfassung vom großen Rechtsgelehrten Hans Kelsen, der der Lehre des sogenannten „Rechtspositivismus“ verbunden war. Als Recht hatte nur das zu gelten, was explizit niedergeschrieben war, das sogenannten „Gewohnheitsrecht“ wurde eliminiert. Kelsens Wurf war ein Meisterwerk: Ein Juwel der Aufklärung und der Moderne, wohl eine der modernsten Verfassungen - wenn nicht überhaupt die modernste Verfassung - der damaligen Zeit, die keine Partei bevorzugte oder benachteiligte, sondern einen fairen Wettbewerb um die Macht und Interessenausgleich sicherstellen sollte. Im Rahmen der klassischen Gewaltenteilung – Legislative/Gesetzgebung/ Exekutive/Vollziehung/Judikative/Gerichtsbarkeit – nahm das Bundesparlament eben als wesentlichster Teil der Legislative das Zentrum der Macht ein.
Die Verfassungsväter nahmen Artikel 1 der Bundesverfassung – „Österreich ist eine demokratische Republik, ihr Recht geht vom Volk aus“ - sehr ernst. Bundesparlament bedeutet: Zwei Kammern, nämlich Nationalrat und Bundesrat – mit der überwiegenden Kompetenz beim Nationalrat - und die Bundesversammlung, die aus den Mitgliedern des Nationalrats und des Bundesrats bestand.
Der Vorrang des Parlamentes zeigte sich – und jetzt sind wir beim Kern unseres heutigen Themas - insbesondere bei der Konzeption der Funktion und der Kompetenzen des Staatsoberhauptes. Es war den Sozialdemokraten ein besonderes Anliegen, nach den – für sie so negativen - Erfahrungen mit den habsburgischen Monarchen – keinen „Ersatzkaiser“ zuzulassen. Wie sollte Karl Kraus – der große österreichische Schriftsteller – anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Republik 1928 die Zerschlagung habsburgerlicher Allmachtsfantasien in Umdeutung der „Kaiserhymne“ so schön formulieren:
„Gott erhalte, Gott beschütze
vor dem Kaiser unser Land.
Sicher ohne seine Stütze,
mächtig ohne seine Hand.“
Und weiter: „ Nimmer sei mit Habsburgs Throne
Österreichs Geschick vereint“
Erklärtes Ziel der Verfassungsväter war es, die Legitimation des nunmehr republikanischen – also nicht- monarchischen – Staatsoberhaupts unmittelbar an das Parlament zu binden und seine Kompetenzen möglichst schwach auszugestalten.
Die Verfassung von 1920 sah folglich vor, dass der Bundespräsident von der Bundesversammlung – also von beiden Kammern des Bundesparlaments - für bloß vier Jahre und für höchstens zwei Perioden – in geheimer Abstimmung mit absoluter Mehrheit gewählt wurde. Verantwortlich war der Bundespräsident ebenfalls ausschließlich dem Parlament. Die Bundesversammlung konnte Anklagen wegen Verletzung der Bundesverfassung durch den Bundespräsidenten beim Verfassungsgerichtshof erheben, allerdings waren dafür erhöhte Stimmquoren – es mussten die Hälfte der Abgeordneten anwesend und der Beschluss von 2/3 der Anwesenden getragen sein – notwendig.
Die Kompetenzen des Bundespräsidenten nach der Verfassung von 1920 entsprachen weniger dem eines souveränen Staatsoberhauptes als einem bloßen Staatsnotar:
Alle Akte konnten nur auf Vorschlag der Bundesregierung oder der ermächtigten Minister durchgeführt werden und bedurften derer Gegenzeichnung.
Der kaum beschränkte Vorrang des Parlamentes – und damit das völlige Durchgriffsrecht auf den Bundespräsidenten – bedeutete auch, dass – nicht wie nach der Verfassungsnovelle von 1929 und somit auch noch heute – der Bundespräsident eine ihm genehme Bundesregierung bestellen kann, sondern die Bundesregierung im Rahmen eines Gesamtvorschlages des Hauptausschusses vom Nationalrat in namentlicher Abstimmung gewählt wurde. Daneben existierte selbstverständlich auch ein Misstrauensvotum des Nationalrats gegenüber Kanzler und Regierungsmitglieder.
Man braucht wohl nicht erwähnen, dass bei diesem parlamentszentrierten System selbstverständlich der Nationalrat über das Heer verfügte bzw. mit der Verfügungskompetenz die Bundesregierung bzw. den Bundesminister betraute.
Und wer waren nun die Personen, die – bis zur dramatischen Verfassungsänderung 1929 eng beschnittenen – Kompetenzen des Staatsoberhauptes ausübten? Zuerst ein Staatsrat und dann - nach der Wahl 1919 - der sozialdemokratische Präsident der Konstituierenden Nationalversammlung Karl Seitz, der spätere Bürgermeister von Wien.
Der erste Bundespräsident, der nach Inkrafttreten der Verfassung am 10. November 1920 von der Bundesversammlung gewählt wurde und auch diesen Titel trug, war Michael Hainisch der zwei Perioden – also zweimal vier Jahre – ausschöpfte und bis 1928 als „Parteiloser“ unauffällig und bieder die Funktion des „Staatsnotars“ ausübte. Auf ihn folgte der Christlich-Soziale Wilhelm Miklas, der zweite und gleichzeitig letzte Bundespräsident der Ersten Republik. Er wurde wie gesagt 1928 gewählt und hat sowohl den Umbruch der demokratischen Republik in die austrofaschistische Diktatur als auch das Ende Österreichs 1938 in dieser Funktion erlebt.
Vor allem aber fällt in seine Amtszeit die Verfassungsnovelle 1929, die uns so ganz besonders interessieren sollte, weil diese Novelle noch heute in Kraft ist und die Position des Bundespräsidenten nachhaltig veränderte.
Nach dem großen Wurf der Verfassung von 1920 und der ersten regulären Wahl in diesem Jahr schieden die Sozialdemokraten aus der Koalition mit den Christlich-Sozialen aus. Die Christlich-Sozialen wiederum regierten ab diesem Zeitpunkt als sogenannter „Bürgerblock“ mit den Deutschnationalen bis zur Zerstörung der Demokratie in den Jahren 1933 und 1934 unter Engelbert Dollfuß.
Den konservativen und deutschnationalen Kräften waren mehr und mehr die Errungenschaften der Revolution von 1918 bis 1920 ein Dorn im Auge. Nicht nur die so wichtigen Arbeits- und Sozialgesetze und der Mieterschutz sollten als „revolutionärer Schutt“ beseitigt werden, sondern auch die demokratische und rechtsstaatliche Republik wurde von Anbeginn in Frage gestellt. Speerspitze dieser Bewegung auf christlich-sozialer und deutschnationaler Seite waren die Heimwehren, die als bewaffnete paramilitärische „Privatarmee“ immer stärker den öffentlichen Raum als Aufmarschbasis besetzte. Im Gegenzug etablierte sich auf sozialdemokratischer Seite 1923 ebenfalls ein bewaffneter paramilitärischer Verband, der Republikanische Schutzbund. Dieser hatte allerdings im Gegensatz zu den Heimwehren das Ziel, die demokratische und rechtsstaatliche Republik zu verteidigen.
Nach dem sogenannten „Justizpalastbrand“ 1927, als ungeleitete Arbeiter und Arbeiterinnen nach einem krassen Fehlurteil eines Wiener Geschworenengerichtes zu Gunsten von eindeutigen Mördern der Heimwehr spontan demonstrierten und das verhasste Gebäude der Justiz anzündeten, der christlich-soziale Bundeskanzler und Prälat Ignaz Seipel und der deutschnationale Innenminister Karl Hartleb in die Menge schießen ließen – mit dem Ergebnis von 90 Toten und mehr als 1000 Verletzten – und sich die politische Schwäche der Sozialdemokratie mehr und mehr offenbarte, kam es immer häufiger zu Gewaltexzessen zwischen den beiden verfeindeten paramilitärischen Verbänden. Ziel der Heimwehr war es ganz offensichtlich, die Republik zu destabilisieren, um – als einzige politische Lösung – die Umwandlung der bürgerlich- liberalen Verfassung in autoritäre, diktatorische Strukturen zu legitimieren.
Das Fass zum Überlaufen brachte eine bewaffnete Auseinandersetzung am 18. August 1929 hier in der Steiermark, in St. Lorenzen im Mürztal, die die bereits entscheidend radikalisierte Heimwehr provoziert hatte. Es gab drei Tote, die Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes Karl Hauer, Franz Hübl und Johann Schifkovits. Die Zeitungen in ganz Österreich fragten in ihren Schlagzeilen bereits, ob „der Bürgerkrieg bereits begonnen habe“, die maßgeblichen Politiker des „Bürgerblocks“ forderten einen „starken Mann“ - die Forderung kommt uns leider heute noch bekannt vor – an der Spitze des Staates.
Als Vorbild sollte die Weimarer Verfassung des Deutschen Reiches dienen. Dort war mit dem Reichspräsidenten tatsächlich ein „Ersatzkaiser“ an der Spitze des Staates etabliert. Er war der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, er ernannte und entließ den Reichskanzler. Auch auf die Legislative hatte er enormen Einfluss, er konnte den deutschen Reichstag auflösen und im Rahmen seines„Notverordnungsrechts“ dessen Gesetzgebung ergänzen, solange der Reichstag nicht widersprach.
Vor allem der greise Reichspräsident Hindenburg reagierte mit seinen Notverordnungen tatsächlich am Reichstag – also am demokratischen obersten Souverän des Volkes – vorbei und bereitete entscheidend den Weg in die nationalsozialistische Diktatur unter Adolf Hitler vor.
Die Österreichische Sozialdemokratie war in einer schwierigen Position. Sie ahnte, dass ohne Änderung der Bundesverfassung von 1920, die ihre Handschrift trug, der Weg in die Diktatur nicht aufzuhalten sein werde. Auf der anderen Seite wollte sie an der Etablierung eines autoritären Staates mit einem „starken Mann an der Spitze“ nicht auch noch beteiligt sein. Sie trat also in Verhandlungen und versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Der letzte wesentliche demokratische Kompromiss in der Ersten Republik sah schlussendlich vor, dass die Stellung und die Kompetenzen des Bundespräsidenten nach der ursprünglichen Verfassung von 1920 erheblich ergänzt und ausgeweitet wurden:
1. Das Staatsoberhaupt wird nunmehr unmittelbar vom Volk auf sechs Jahre – bei Wiederantritt - 12 Jahre gewählt. Das sind zwar nicht die von den Konservativen nach der Weimarer Verfassung gewünschten 14 Jahre, doch immer noch eine sehr lange Zeit, in der der Präsident nahezu unantastbar ist.
Der Präsident nimmt damit eine einzigartige Stellung im politischen System ein. Außer mittlerweile den Bürgermeistern ist er der einzige, der sich unmittelbar auf die Legitimation durch das Volk berufen kann. Wie immer seine Entscheidung ausfällt, er kann sich auf den Volkswillen stützen. Damit hat er ganz entschieden – insbesondere wenn die Umstände entsprechend sind – die Legitimation zum autoritären „starken Mann“.
Der Bundespräsident agiert – wenn man so will – „autokratisch“: Er hat im politischen System kein Gegenüber, kein Gremium dem er vorsitzt, keine Aufsicht – er monopolisiert das größte Vertrauen und die größte Verantwortung.
2. Die Regierung wird – wie bereits angemerkt – nicht mehr vom Nationalrat gewählt, sondern vom Bundespräsidenten ausschließlich nach dessen Ermessen bestimmt. Er bestellt den Bundeskanzler, auf dessen Vorschlag die Bundesminister.
3. Er hat nunmehr ein entscheidendes Eingriffsrecht in die Legislative: er kann den Nationalrat auflösen und Neuwahlen initiieren, allerdings nur einmal aus demselben Grund – auf das werden wir später noch zurückkommen.
4. Dem Bundespräsidenten kommt die maßgebliche Bedeutung bei der Bestellung der Hüter der Verfassung, - nämlich des Verfassungsgerichtshofes - zu. Wurden früher die eine Hälfte der Verfassungsrichter vom Nationalrat, die zweite Hälfte vom Bundesrat nominiert – also ausschließlich von der Legislative – stellt sich die neue Regelung wie folgt dar: Den Präsidenten, den Vizepräsidenten und sechs Mitglieder des Gerichtshofes bestellt der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung, den Rest von sechs weiteren Verfassungsrichtern der Bundespräsident aufgrund von Dreier-Vorschlägen des Nationalrats und des Bundesrats. Damit ist auch ein erheblicher Einfluss auf die dritte Staatsgewalt - nämlich die Gerichtsbarkeit - gesichert.
5. Mit der Novelle 1929 wird der Bundespräsident auch zum Oberbefehlshaber des Heeres. Die faktische Befehlsgewalt liegt allerdings beim zuständigen Bundesminister.
Außer bei der Bestellung der Bundesregierung und jener Verfassungsrichter, die von Bundesrat und Nationalrat aufgrund von Dreier-Vorschlägen nominiert werden, ist der Bundespräsident weiterhin in allen Angelegenheiten auf die Bundesregierung bzw. den Bundeskanzler – nämlich deren Vorschlag und Gegenzeichnung – angewiesen. Prominente Verfassungsexperten wie Bernd- Christian Funk oder Ludwig Adamovich sehen darin eine erhebliche Einschränkung der politischen Bewegungsfreiheit des Bundespräsidenten, den man in überpointierter Weise sogar als „Gefangenen“ der Bundesregierung bezeichnen könnte.
Man darf aber eines – gerade in Situationen möglicher Konflikte – nicht übersehen: Es ist ein Leichtes für den Bundespräsidenten, sich eine ihm bedingungslos ergebene Regierungsmannschaft zu sichern, die auch seinen Willen uneingeschränkt erfüllt, kann er doch – wie schon angemerkt – jede ihm als geeignet erscheinende Person nach seinem eigenen Gutdünken die Regierungsgeschäfte übertragen und – bei mangelnder Loyalität – sofort wieder entziehen.
Mit dem Notverordnungsrecht dürfen keine bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen abgeändert werden.
Außerdem - und da sieht man, wie die Sozialdemokratie auf der Bremse gestanden ist, um die erreichten sozialen Errungenschaften nicht zu gefährden – kann das Notverordnungsrecht nicht in das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht sowie den Mieterschutz und vor allem auch nicht in die Gewerkschaftsfreiheit und das Streikrecht eingreifen.
Dem Bundespräsidenten ist es nunmehr also ein Leichtes, das Parlament zu lähmen oder ganz auszuschalten, wenn es nicht seinen Vorstellungen entspricht. Er braucht dazu den Vorschlag der Bundesregierung – was, wie oben gesagt – einfach ist und er kann dies so oft hintereinander tun, wie er will. Gründe – auch fadenscheinige - dafür werden sich sicherlich finden lassen. Er kann einfach so lange wählen lassen, bis das Parlament ihm passt. Auch der Einwand, dass es schließlich ja auch ein Misstrauensvotum des Parlaments gegen die Regierung gibt, geht ins Leere. Bevor noch das Parlament über einen solchen Misstrauensantrag entscheiden kann, ist der Vorschlag der Bundesregierung schon erstattet und das Parlament Geschichte. Und dann gilt – wie oben bereits dargelegt – das Notverordnungsrecht.
Einmal gewählt wird man den Bundespräsidenten auch kaum mehr los. Es ist dafür eine Volksabstimmung notwendig. Diese kann die Bundesversammlung beschließen. Notwendig dafür ist allerdings eine 2/3 Mehrheit sowohl im Nationalrat als auch in der Bundesversammlung. Lehnt das Volk die Absetzung ab, gilt der Bundespräsident für eine weitere Periode gewählt. Länger als 12 Jahre insgesamt darf er dadurch allerdings nicht an der Macht bleiben.
Die demokratisch orientierten Kräfte haben im Jahr 1929 einer autoritären Stärkung der Position des Staatsoberhauptes und damit den dargelegten bedenklichen Regelungen mit viel Zähneknirschen zugestimmt. Dennoch gelten diese Regelungen heute noch. Einige Wissenschaftler bezeichnen diese Verfassungsbestimmungen bereits als präfaschistisch.
Gelohnt hat sich der Kompromiss für die Demokraten allerdings nicht. Bereits ein Jahr später - nämlich 1930 - verabschiedeten sich die Heimwehren im Korneuburger Eid endgültig von der Formaldemokratie und wollten die Gewaltenteilung – Legislative, Exekutive und Judikative – also das Herzstück jeder Demokratie – ersetzt wissen durch „den Gottesglauben, den eigenen harten Willen und das Wort der Führer.“ Und ein weiteres Jahr später, 1931, marschiert der steirische Heimwehrführer Walter Pfrimer – in einem dilettantischen Operettenputsch – gegen Wien, um der jungen Demokratie den Todesstoß zu versetzen.
Dies gelingt schließlich in den Jahren 1933/34 Engelbert Dollfuß und seinem Klüngel von Politdesperados, die den Nationalrat ausschalten, Parteien und Verbände verbieten, über die Medien die Zensur verhängen, die Todesstrafe wieder einführen und - nach dem gescheiterten Aufstand der Demokraten im Februar 1934 – endgültig eine menschenverachtende Diktatur errichten.
Wilhelm Miklas – es ist schon erwähnt worden, dass er erstmalig 1928 Bundespräsident wurde – ist trotz der Verfassungsnovelle 1929, die ja eine Volkswahl vorgesehen hätte, aufgrund einer Übergangsbestimmung nochmals von der Bundesversammlung auf weitere vier Jahre gewählt worden. Ihm kamen aber bereits alle – mittlerweile so weitreichenden – Kompetenzen zu.
In der Anfangsphase der österreichischen Diktatur, im Frühling 1933 hätte er es in der Hand gehabt, diese Kompetenzen im Sinne eines Demokraten, der er tatsächlich war, auch auszuüben. Er hätte Dollfuß abberufen, den Nationalrat auflösen und Neuwahlen anordnen können. Miklas tat das alles nicht. Er beschränkte sich darauf, Dollfuß vor der Errichtung der Diktatur zu warnen und versuchte, ihn in Gesprächen davon abzubringen.
Die Gründe des Bundespräsidenten für sein Zurückweichen mögen menschlich verständlich sein. Nur wer schon einmal in einer solchen Situation war und besser gehandelt hat, werfe den ersten Stein. Es war zum einen Loyalität gegenüber dem christlich-sozialen Parteifreund Dollfuß, zum zweiten war es sicherlich Furcht. Miklas befürchtete – wahrscheinlich gar nicht ganz zu Unrecht – von Dollfuß aufgrund seines „unkooperativen Verhaltens“ verhaftet zu werden. Und – so glaube ich – der banale Hauptgrund: Miklas hatte eine Familie mit vier Kindern zu versorgen, er wollte einfach seine Funktion als Bundespräsident mit einem erheblichen Einkommen nicht gefährden. Seine Untätigkeit gegen die Etablierung der Diktatur wurde ihm gelohnt, nach Installierung der sogenannten „Ständestaatsverfassung“ im Mai 1934 wurde er wiederum zum Bundespräsidenten bestellt.
An der Hinrichtung von neun Aufständischen im Februar 1934 trifft ihn allerdings keinerlei Verantwortung. Der Justizminister und spätere Diktator Kurt Schuschnigg hatte die Gnadengesuche der Verurteilten nicht einmal an Miklas weitergeleitet – Miklas galt politisch einfach zu unzuverlässig, als man annehmen hätte können, dass er die Gnadengesuche mit Sicherheit abgelehnt hätte. Man sieht, meine Damen und Herren, Unzuverlässigkeit kann auch eine Charakterauszeichnung sein.
In der Gesamtbeurteilung kann man zum Schluss kommen, dass sich Wilhelm Miklas als ein hoch anständiger und demokratisch ausgerichteter Mensch verstand, seiner Funktion als verantwortungsbewusster Bundespräsident aber einfach nicht gewachsen war.
Seinen Protest vertraute er nur seinem Tagebuch an. Dort heißt es wörtlich: „Ist das noch ein Rechtsstaat? Nach der Zerstörung des Parlaments jetzt auch noch die Zerstörung des Verfassungsgerichtshofs. Das soll ein katholisches Gewissen aushalten!“
Mit ein wenig mehr Mut und Standfestigkeit hätte Miklas – ein wahres Ironiestück der Geschichte – die neugestaltete autoritätslastige Verfassung – eben ganz anders als von den autoritären Kräften geplant – als Demokrat nutzen können.
Ein letztes Aufbegehren gegen den faschistischen Wahn ist ihm allerdings noch gut zu schreiben: Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten 1938 weigerte er sich, das Anschlussgesetz zu unterschreiben, indem er unmittelbar davor seine Amtsgeschäfte niederlegte.
Nach den dunklen zwölf Jahren nach 1933 – insbesondere auch nach Zusammenbruch des nationalsozialistischen Unrechtsregimes – beschlossen die drei demokratischen Parteien – die Österreichische Volkspartei als neue Sammelbewegung der bürgerlichen Kräfte, die wiedererstandene Sozialdemokratie und die Kommunisten – Österreich im Rahmen – und das ist jetzt ganz besonders zu betonen – der Verfassung des Jahres 1920 wieder einzurichten. Dies bedeutet, dass man die autoritären – wie gesagt manche meinen sogar präfaschistischen – Verfassungsänderungen zur Stellung des Bundespräsidenten von 1929 nicht übernehmen wollte.
Warum dies dann aber doch – leider, darf ich anmerken! –geschehen ist, ist noch nicht ausreichend erforscht. Faktum ist, die Verfassung der Ersten Republik wurde schlussendlich in der Fassung von 1929 übernommen. Die Sozialdemokratie ist ganz offensichtlich den Wünschen der Konservativen nachgekommen, wofür es für mich eigentlich nur eine Erklärung gibt: Es war ein typischer Deal der Nachkriegszeit, in dieser so schwierigen Zeit, der heute kaum noch nachfühlbaren Entbehrungen, als sich Österreich – wie Profil- Redaktuer Herbert Lackner unlängst treffend anmerkte – auf dem Niveau eines afrikanischen Entwicklungslandes befand – etwa mit einer Säuglingssterblichkeit noch im Jahr 1947 von 16 %, Mitte 1945 waren es sogar 42 % gewesen. In einer Zeit also, wo man im Sinne des politischen Friedens und der Vernunft eng miteinander kooperierte und Interessen abtauschte.
Die ÖVP hatte – zu aller und wohl auch zu ihrer eigenen Überraschung – die Wahl im Dezember 1945 mit absoluter Mehrheitgewonnen. Nachdem man übereingekommen war, den Bundespräsidenten doch wieder durch die Bundesversammlung wählen zu lassen – man wollte sich in dieser prekären wirtschaftlichen Situation einfach keine teure Direktwahl durch das Volk leisten - wäre die Wahl eines Kandidaten der ÖVP, die in der Bundesversammlung die absolute Mehrheit hatte, sicher gewesen. Dennoch bot man – möglicherweise als nachträgliches Zugeständnis für die Installation der Verfassung von 1929 – den Sozialdemokraten an, Karl Renner zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik zu wählen. Der erste Präsident, der unmittelbar durch das Volk gewählt wurde, war dann im Jahre 1951 Theodor Körner.
Die Bundesrepublik Deutschland gestaltete den Neubeginn nach 1945 doch wesentlich besser. Sie hatte aus ihrer eigenen Geschichte erkannt, dass die herausragendenKompetenzen eines Präsidenten als „starker Mann an der Spitze“ eine enorme Gefahr für ein demokratisches, freiheitssicherendes Gemeinwesen darstellt. In ihrer neuen Verfassung – dem Grundgesetz von 1949 – wurden die Kompetenzen des Bundespräsidenten wesentlich eingeschränkt.
Insbesondere wählt den deutschen Bundespräsidenten – analog zur österreichischen Verfassung von 1920 - die Bundesversammlung. Auch den Bundeskanzler wählt eine Kammer des Parlaments, nämlich der Bundestag. Die Wahl kann sogar gegen den Willen des Bundespräsidenten erfolgen. Daraus folgt, dass – anders als in Österreich – der Bundeskanzler als Führer – in Deutschland kann man’s getrost sagen Führerin - der Bundesregierung in jeder Phase das Vertrauen des Parlaments besitzen muss.
Auch die Bundespräsidenten der Zweiten Republik Österreich haben von ihrer beachtlichen Macht kaum Gebrauch gemacht – ja, gerade das Nicht-Einsetzen ihrer Macht war und ist ganz offensichtlich Teil ihres Amtsverständnisses. Nur zwei wirkliche Konfliktfälle in der Zweiten Republik, in die ein Bundespräsident verwickelt war, sind aufgetreten. Sie wurden unterschiedlich gelöst.
1953 weigerte sich Theodor Körner, eine von der ÖVP vorgeschlagene Konzentrationsregierung unter Beteiligung des Verbandes der Unabhängigen (VdU) – also der Vorgängerorganisation der FPÖ – unter der Führung Leopold Figls anzugeloben. Körner setzte sich durch, es folgte wieder eine ÖVP/SPÖ – Koalitionsregierung.
Im Jahre 2002 dürfte Thomas Klestil, der vor demselben Problem stand, bekanntlich weniger mit sich zufrieden gewesen sein. Entgegen seiner entschieden artikulierten Abneigung installierte er – allerdings mit einer mittlerweile berühmt gewordenen „steinernen Miene“ – eine ÖVP-FPÖ Koalition. Immerhin lehnte er zwei von Schüssel vorgeschlagene Minister – nämlich Thomas Prinzhorn und Hilmar Kabas – ab. Klestil reizte die Verfassung – die Auseinandersetzung hätte durchaus auch zu einer Staatskrise führen können – nicht aus.
Tut dies aber ein Präsident – insbesondere um seine eigenen autoritären Vorstellungen durchzusetzen – ist Feuer am Dach. Die verfassungsrechtlichen Kompetenzen bergen – wie ich hoffentlich halbwegs klar darlegen konnte – enormen Sprengstoff. Die Verfasstheit des österreichischen Bundespräsidenten ist eben eine Medaille mit zwei Seiten: Hält sich der Präsident an die bisherigen Usancen, ist er ein Präsident ohne wesentliche Macht, ein Repräsentant nach außen und moralische Instanz. Hält er sich nicht an die Usancen und nimmt seine verfassungsrechtlich gewährleisteten Möglichkeiten in Anspruch, kann er ohne weiteres den Weg in die Diktatur bereiten.
Diese Explosivität könnte sich im Übrigen dann verschärfen, wenn eine Idee, verwirklicht wird, die derzeit immer wieder – und durchaus heiß – diskutiert wird. Nämlich die repräsentative Demokratie – will heißen, dass die Abgeordneten als Repräsentanten des Volkes im Parlament entscheiden – zugunsten von plebiszitären Elementen – will heißen verbindliche Volksabstimmungen – zurückzudrängen.
Die österreichischen Verfassungsväter und ihre Erben – und im Übrigen auch der Großteil der demokratischen Staaten – immer wieder in Berufung auf den Österreicher Hans Kelsen, was man durchaus mit Stolz anmerken darf – vertraten und vertreten die Meinung, dass das repräsentative Prinzip die Freiheit des einzelnen am besten sichern kann. Von allen Systemen hält es die Zahl derjenigen Bürger am kleinsten, deren Freiheit durch politische Entscheidungen eingeschränkt wird. Es schützt auch – wenn notwendig – die Minderheit vor der Mehrheit.
Ein autoritär denkender Präsident – sich selbst auf ein Plebiszit des Volkes berufend – könnte sich leicht an die Spitze von Volksinitiativen setzen, die – unter Ausschaltung der Parlamente - zu verbindlichen Gesetzen - möglicherweise auch unter Abänderung der Verfassung - führen. Eine enorme Polarisierung der Gesellschaft wäre die Folge: Eine Stimme Überhang setzt die Meinung der glücklichen Mehrheit gegenüber der Minderheit kompromisslos durch. Ein Beispiel, wie solcher Missbrauch plebiszitärer Elemente funktionieren kann, geben etwa Viktor Orban mit seiner Volksinitiative zur Ablehnung von Flüchtlingen oder die zu erwartende Volksabstimmung in der Türkei zur Todesstrafe.
Vor allem „Schicksalsfragen“ gehören ins Parlament, wie der Politologe und Journalist Josef Joffe unlängst in der renommierten deutschen Wochenzeitschrift „Die Zeit“ festhält. Nichts kann dies besser und plakativer untermauern als der sogenannte„Brexit“: 52 % der britischen Urnengänger haben die bestehende Verfassung – die aktuelle Ordnung – umgeschrieben – zu Lasten jener 48 %, die in der Europäischen Union verbleiben wollten. Die dramatischen Folgen werden alle zu tragen haben. Ein bloßes „Ja“ oder „Nein“ duldet kein Ausverhandeln von Interessen, duldet insbesondere keinen in der Demokratie so unverzichtbaren Kompromiss.
Dass es vielen nachträglich leid tat, weil sie wörtlich „gar nicht gewusst haben, worüber sie abstimmen“ oder nicht der EU, sondern ihrer Regierung einen Denkzettel verpassen wollten, bestätigt nur die Skepsis gegenüber plebiszitären Entscheidungen.
Von der fachlichen Kompetenz, solche Entscheidungen zu treffen, überhaupt zu schweigen. Die ist bei Volksabstimmungen – im Gegensatz zu parlamentarischen Entscheidungen, wo sehr stark Expertise einfließen kann – mehr als zweifelhaft. Richard Dawkins – der berühmte Biologe – wurde vor der Abstimmung in Großbritannien gefragt: „Für oder gegen Brexit?“ Er antwortete treffend: „Woher soll ich das wissen? Ich habe keinen Abschluss in Wirtschaft oder Geschichte. Was fällt ihnen ein, mir Ignorant eine solche schicksalshafte Entscheidung anzuvertrauen.“ Das Parlament müsse wägen und beraten. Das Referendum sei – wörtlich - „ein Akt monströser Verantwortungslosigkeit“.
Ich darf zum Schluss kommen, meine Damen und Herren, mit ein paar wenigen Anmerkungen zur Wiederholung der aktuellen Stichwahl zum Bundespräsidenten. Der Verfassungsgerichtshof hat die Wahl im Mai dieses Jahres aus zwei Gründen aufgehoben:
Zum einen kam man – nach einem noch nie dagewesenen, im Übrigen vorbildlichen - Beweisverfahren zum Ergebnis, dass zumindest in 14 Bezirken die Regeln für die Durchführung der Briefwahl nicht eingehalten wurden, wovon knapp 78.000 Stimmen betroffen waren. Der Gerichtshof entschied, dass die von der Rechtswidrigkeit betroffenen Stimmen die Hälfte des Vorsprunges von Alexander Van der Bellen – ca. 15.500 Stimmen – bei weitem überstiegen und dass dies – und das ist nun wesentlich – „von Einfluss auf das Wahlergebnis sein konnte“. Die Betonung liegt auf „konnte“. Dies selbst dann, wenn – wie im vorliegenden Fall - keine Manipulation des Wahlergebnisses hervorgekommen ist.
Und zum anderen bemängelte das Höchstgericht, dass das Ministerium vorzeitig Teilergebnisse an Medien und Forschungsinstitute weitergegeben habe. Darin sei eine Verletzung der „Freiheit der Wahl“ zu erblicken, weil die Wahllokale noch nicht geschlossen waren und sich manche Wähler an diesen Informationen orientieren konnten.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes ist sicher vertretbar und jedenfalls zu akzeptieren. Sie wurde aber – meines Erachtens nicht ganz zu Unrecht – von prominenten Verfassungsrechtlern wie Theo Öhlinger, Heribert Köck und Heinz Mayer kritisiert.
Grund der Kritik war, dass die Meinung des Verfassungsgerichtshofes an sich im Widerspruch zum klaren Wortlaut des Artikels 141 Abs. 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes steht. Dieser Artikel lautet: „Der Verfassungsgerichtshof hat einer Anfechtung statt zu geben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war.“ Indikativ und nicht Konjunktiv, wie wir in der Schule gelernt haben. Dass die unbestrittenen Mängel – eben nicht Manipulationen – Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt haben, konnte ja im Beweisverfahren gerade nicht festgestellt werden.
Das Höchstgericht berief sich auf die eigene - jahrzehntelange Judikatur, die wieder einmal auf die – heute schon mehrmals angesprochene - Ikone des österreichischen Verfassungsrechts, Hans Kelsen zurückgeht. Im Jahr 1927 - damals war Kelsen Verfassungsrichter – hat aber der Verfassungsgerichtshof eindeutig festgestellt, dass die Beurteilung der Möglichkeit eines Einflusses auf das Wahlergebnis „im Ermessen“ des Gerichtshofes steht. Das heißt im Klartext, dass eine Plausibilitätsprüfung anzustellen ist.
In den elf beanstandeten Bezirken lag das Wahlkarten-Ergebnis mit 54,5 % für den Ersten zu 45,5 % für den Zweiten unauffällig im allgemeinen Trend. Erst bei einem völlig aus der Reihe tanzenden Ergebnis von nur 34 % für den Ersten zu 66 % für den Zweiten hätte der Letztere insgesamt gewonnen. Nur dann wäre es also zu einem Einfluss auf das Wahlergebnis gekommen. Der Statistiker der Universität Wien, Erich Neuwirth, hat errechnet, dass unter den gegebenen Umständen die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ergebnisses auf „kleiner als ein Promille“ einzuschätzen und damit praktisch auszuschließen ist.
Und die vorzeitige Bekanntgabe von Teilergebnissen an Medien und Wahlforschungsinstitute? Es erstaunt schon etwas, dass dies dem Verfassungsgerichtshof erst bei dieser Wahl aufgefallen ist. Die Information der Medien und Forschungsinstitute ist jahrzehntelange Praxis. Es wäre schön gewesen, hätte der Präsident des Verfassungsgerichtshofes in seinen zahlreichen Interviews vor den verschiedenen Wahlen auf diesen angeblichen Missstand – die Behauptung einer „Rechtswidrigkeit“ geht nun meines Erachtens doch zu weit – aufmerksam gemacht.
Beim genauen Lesen der Entscheidung – immerhin 245 Seiten – kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass sich der Verfassungsgerichtshof in diesem Punkt offenbar selbst nicht ganz ernst nimmt. Was ist denn, wenn der Gerichtshof nur einzelne Teile einer Wahl – etwa in einzelnen Gemeinde, wie dies schon öfter vorgekommen ist – aufhebt? Dann wählen manche Bürgerinnen und Bürger nochmals und wissen dabei natürlich genau, was die anderen gewählt haben. Ist das nicht auch eine Verletzung der „Reinheit der Wahlen“, wie jetzt im aktuellen Urteil des Verfassungsgerichtshofs steht?
Im Übrigen wäre es spannend zu erfahren, wie der Willensbildungsprozess im Verfassungsgerichtshof tatsächlich abgelaufen ist. Für die Zukunft wird es wohl unablässlich sein, abweichende Meinungen – sogenannte Dissenting Opinions – wie in anderen demokratischen Staaten auch – zu publizieren.
Und ganz zum Schluss: Die neuerliche Stichwahl ist verschoben, was konsequent und richtig ist. Eine nochmalige erfolgreiche Anfechtung kann sich das Ansehen dieses Landes schlicht und ergreifend nicht leisten.
Diesmal gehört das Bummerl allerdings nicht den Beamten in einzelnen Wahlsprengeln – und somit dem Staat –, sondern einer privaten Monopol-Druckerei.
Was lernen wir daraus, meine Damen und Herren? Shit happens, wie die Angelsachsen so schön sagen. Und zwar unabhängig vom üblichen ideologischen Geplänkel, ob nun mehr Staat oder mehr Privat besser ist.
Und in der Zwischenzeit dürfen wir uns mit dem Bonmot unseres Oberpolitologen Peter Filzmaier trösten. Der hat humorvoll zutreffend gemeint, Österreich sei „rein klebetechnisch nicht ganz dicht“.
Dem ist – ebenfalls klebetechnisch – nichts hinzuzufügen.
Aber man muss optimistisch sein. Wird schon schief gehen, alle guten Dinge sind in diesem Fall vier.
[Und ganz zum Schluss, meine Damen und Herren, noch eine Frage: Was hat Einfluss auf die Welt? Ich darf diese rethorische Frage selbst beantworten: Einfluss auf die Welt hat sicherlich das, was Mächtige entscheiden. Aber noch mehr Einfluss auf die Welt hat das, was die Wählerin/der Wähler wählt.]
Ich danke für die Aufmerksamkeit.