Vortrag am Historikertag 15.9.2015 in Linz
Einbegleitende Worte ...
Der Titel der Veranstaltung will Mythen und Fakten gegenüberstellen, ein Rahmen, an den (auch) ich mich halten möchte. Dabei will ich mich nicht auf den Februaraufstand im Jahr 1934 beschränken, sondern meine Analyse – die aufgrund der doch kurzen Zeit nur im Überblick erfolgen kann – auf die Fundamente der österreichischen Diktatur von 1933 bis 1938 ausdehnen.
Was sind nun die gängigsten Mythen, die in der Literatur seltener, bei Diskussionen aber immer noch häufig auftreten. Und deren Konstruktion oder auch Dekonstruktion meist entlang der Bruchlinie der alten Lager, zeitweilig aber auch innerhalb dieser Lager erfolgt. Beziehungsweise: Welche sogenannten Mythen sind gar keine, sondern vertretbare Thesen?
Mythos Nummer eins: Die Dollfuß-/Schuschnigg-Diktatur ist durch die Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes – KWEG – ohne Rechtsbruch aus der demokratischen rechtsstaatlichen Ersten Republik hervorgegangen.
Unter Federführung Robert Hechts – eines loyalen und findigen Sektionschefs im Heeresministerium – hat die Regierung das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz des Jahres 1917 wieder ausgegraben, das durch das Verfassungs-Überleitungsgesetz von 1920 in den republikanischen Rechtsbestand transferiert und – trotz entsprechender Anträge der Sozialdemokraten – daraus nicht wieder entfernt worden war. Es gestattete der Regierung „während der Dauer der durch den Krieg hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse“notwendige Verfügungen zur wirtschaftlichen Gegensteuerung zu treffen, wobei allerdings die Verordnung spätestens am Ende des Kalenderjahres, sonst bei seinem Zusammentreten, dem Reichsrat – dann dem Nationalrat – vorzulegen war und diese deren Aufhebung verlangen konnten.
Dollfuß benützte dieses Gesetz, um – verfassungsrechtlich bereits fraglich, weil die Voraussetzungen nicht gegeben waren – eine Verordnung zur Bestrafung der für das Finanzdebakel der Boden-Creditanstalt verantwortlichen Direktoren zu erlassen. Die Sozialdemokraten erkannten die Stoßrichtung dieser Vorgangsweise und protestierten am 20. Oktober 1932 im Parlament – trotz inhaltlicher Übereinstimmung mit dem Verordnungstext (schließlich sollten Wirtschaftsverbrecher bestraft werden) – vehement gegen die rechtswidrige Anwendung des KWEG. Freilich ohne Erfolg, der „Staatsstreich auf Raten“ hatte begonnen.
Daran gleich anknüpfend Mythos Nummer zwei: Der Nationalrat – und damit der Parlamentarismus – hat sich im März 1933 selbst ausgeschaltet.
Der wohl platteste Mythos, den man mittlerweile erfreulicher Weise nur noch selten hört, der aber – wie das Symposium im Vorjahr in Graz zum Thema wieder einmal gezeigt hat – selbst bei einzelnen (allerdings älteren) Historikern nicht auszurotten ist.
Am 4. März 1933 traten bekanntlich alle drei Präsidenten des Nationalrats im Zuge der Verhandlungen über einen Eisenbahnstreik wenige Tage zuvor zurück. Ohne Ergebnis und ohne Beschluss auf die Fortsetzung der Debatte verließen die Abgeordneten das Haus. Trotz zahlreicher verfassungsrechtlicher Sanierungsmöglichkeiten sprach die Regierung von einer „Selbstausschaltung des Nationalrats“ und verhinderte dessen Wiederzusammentreten am 15. März 1933 mit behördlichen Absperrungen.
Die Auffassung der Machthaber zu diesen Ereignissen, der Parlamentarismus habe sich selbst gelähmt und den autoritären Regierungsmaßnahmen in der Folge käme Legalität zu, war – wie ExpertInnen vor mir schon festgestellt haben – die „Lebenslüge des Austrofaschismus“.
Es gibt – soweit von mir überschaubar – in der neueren historischen beziehungsweise rechts- und staatswissenschaftlichen Literatur keine Autorin, keinen Autor mehr, der ernsthaft die Auffassung vertritt, die Vorgangsweise des Regimes wäre rechtlich gedeckt: Spätestens am 15. März 1933 lag somit klarer Verfassungsbruch vor.
Dies gilt selbstverständlich auch für die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs, die juristisch trickreich bewerkstelligt wurde, um eine Überprüfung der verfassungswidrigen Verordnungen der Regierung zu verhindern.
Selbst Andreas Khol – der jahrzehntelang bemüht war, die Legitimität des Regimes wissenschaftlich zu stützen - spricht mittlerweile ganz klar und wörtlich von einem „Putsch der Regierung Dollfuß“.
Ich habe im Übrigen diese hilflosen Legitimationsversuche nie
wirklich verstanden – schon während meiner juristischen Ausbildung
nicht, als das Bild von der österreichischen Diktatur noch ein
wesentlich anderes war. Selbst Adolf Hitler hat versucht, die
Zerstörung der Demokratie in den ersten Monaten des Jahres 1933
ohne Bruch mit dem Normenbestand der Weimarer Republik – und
damit evolutionär legitimiert – erscheinen zu lassen. Auch wenn man
annehmen wollte, Hitlers Taschenspielertricks wären gelungen, macht dies die Errichtung der Diktatur und den Nationalsozialismus insgesamt sympathischer?
Mythos Nummer drei: Die Sozialdemokratie hat Mitschuld an der Errichtung der Diktatur, weil sie zu wenig kooperativ war und daher gegen die Prinzipien einer Konkordanzdemokratie verstoßen habe.
Richtig ist, dass die Sozialdemokraten 1920 nicht gerade ungern aus der Koalition ausgeschieden sind. Spätere Koalitionsanbote der christlich-sozialen Partei, zuletzt von Dollfuß selbst, hat sie ausgeschlagen.
Vielfach vertrat man innerhalb der Sozialdemokratie die Meinung, dass Kompromisse mit den bürgerlichen Kräften nicht notwendig seien, weil deren Politik die Wähler ohnehin der Sozialdemokratie zutreiben werde. Man werde – gleichsam automatisch – die absolute Macht erringen, um dann die eigenen Ideen – insbesondere das ehrgeizige Sozialprogramm, wie vom „Roten Wien“ eindrucksvoll vorgegeben – umzusetzen.
Auch wenn viele HistorikerInnen an der Ernsthaftigkeit der Anbote der Konservativen zweifeln, waren diese Vorab–Ablehnungen einer koalitionären Zusammenarbeit meines Erachtens der größte politische Fehler der Sozialdemokratie in der Ersten Republik.
Und dass die Chuzpe, das Lausanner-Abkommen - nicht zuletzt wegen des Erhalts der eigenen Anschlussfantasien - nicht mitzutragen, den mit einer Stimme Überhang regierenden Dollfuß zur Weißglut getrieben hat, ist durchaus nachvollziehbar. Aber, wie gesagt, es handelte sich allenfalls um politische Fehler. Das Nicht-Eingehen einer Koalition ist selbstverständlich in der Demokratie legitim, auch heute schließen einzelne Parteien – dezidiert und glaubwürdig – bestimmte Koalitionsformen aus. Daraus eine Rechtfertigung zur Errichtung einer Diktatur oder die Mitschuld eines Koalitionsunwilligen abzuleiten, ist absurd.
Vierter Mythos: Die Sozialdemokratie hat Mitschuld an der Errichtung der Diktatur und an den Opfern des sogenannten Bürgerkriegs, weil sie gegen den Verfassungsbruch im März 1933 nicht heftig genug aufgetreten ist.
Richtig ist, dass der März 1933 der günstigste Moment für einen entschlossenen Widerstand gegen die autoritären Anmaßungen gewesen wäre. Möglicherweise hätte zu diesem Zeitpunkt ein Generalstreik noch gelingen können, die Diktatur war noch nicht ausreichend etabliert, vielleicht hätte bereits die glaubhafte Drohung, sich mit Waffengewalt zu widersetzen, ein Einlenken der Regierung Dollfuß bewirkt.
Die Sozialdemokratie verlegte sich aufs Verhandeln, sie „bettelte“ geradezu um den Erhalt des demokratischen Rahmens und ihr eigenes Überleben.
Auch dies war – allerdings im Nachhinein betrachtet – wohl ein politischer Fehler, irgendein Mitverschulden ist aus dieser „Appeasement-Politik“ mit Sicherheit nicht abzuleiten. Der Vorhalt erinnert an den immer wieder erhobenen Vorwurf an ein Vergewaltigungsopfer, es hätte sich nicht rechtzeitig und ausreichend gewehrt und damit die Straftat mitverschuldet.
Fünftens: Die Sozialdemokratie hat im Februar 1934 nur den Sozialismus, nicht aber die Demokratie verteidigt – auch ein Mythos?
Ich glaube nicht, ich halte den Satz für eine These, die vertretbar und auf den ersten Blick auch stimmig ist. In den mir bekannten Aufrufen zu Generalstreik und bewaffnetem Aufstand hat die Sozialdemokratie keinerlei Bezug genommen zur Demokratie. Als Beispiel kann die Extraausgabe des steirischen „Arbeiterwille“ dienen. Dort heißt es: „Alarm! Alles heraus zum Endkampf gegen den Faschismus!“ und weiter: „Es lebe der Sozialismus! Es lebe die um ihre Freiheitsrechte kämpfende Arbeiterschaft!“
Auf den zweiten Blick ist die Feststellung, dass die Sozialdemokratie tatsächlich für Demokratie eingestanden ist, wesentlich schlüssiger.
In den Aufrufen konnte man mit der bürgerlich-liberalen Demokratie nicht mehr mobilisieren, die Heimwehren und die Regierung Dollfuß hatten sie vollständig desavouiert. Arbeit, Freiheit und Recht waren erfolgversprechendere Parolen. Eine – und schon gar nicht endgültige – Distanzierung der Sozialdemokraten von der Demokratie ist daraus keineswegs abzulesen.
Zwar hatte die Sozialdemokratie seit Gründung der Republik Probleme – und davon zeugen auch einzelne Dokumente – ihre demokratische Position angesichts des von ihren politischen Mitbewerbern vorangetriebenen Autoritarismus und gegenüber der eigenen extremen Linken, deren Einbindung in das demokratische Gefüge ein enormer Verdienst war, bis zuletzt zu behaupten. Der Hinweis auf die „Diktatur des Proletariats“ im Linzer Programm –völlig und unbeanstandbar defensiv, aber dennoch – wie Bruno Kreisky angemerkt hat – ein Brandmal – ist dafür ein guter Beleg.
In der großen Linie ist aber die Sozialdemokratie wie keine andere Partei der Ersten Republik zu den demokratischen Prinzipien gestanden und hat selbst in der Zeit der Verfestigung der Diktatur nach dem März 1933 weiter um den Erhalt des demokratischen Rahmens – freilich auch das eigene Überleben – gekämpft, wobei sie zu zahlreichen Kompromissen mit dem Regime bereit gewesen wäre.
In den Aufstand des Februar 1934 ist sie ohne Vorstellung geschlittert, wie der politische Rahmen nach einem Gelingen des Unternehmens gestaltet sein sollte. Jede Annahme ist Spekulation. Auch wenn selbstverständlich jene Kräfte, die gerade eine Diktatur errichtet hatten, von der politischen Willensbildung – zumindest vorübergehend – hätten ausgeschlossen werden müssen, gab es auch innerhalb dieser Kräfte zahlreiche besonnene Menschen, mit denen man eine „wehrhafte Demokratie“ hätte wagen können.
Dass die Sozialdemokratie ihre demokratischen Werte keineswegs über Bord geworfen hatte, zeigt die Aussage des – unverdächtigen – Vizekanzlers im letzten demokratischen Kabinett Dollfuß und Parteiobmannes des deutschnationalen Landbundes, Franz Winkler, der Motiv und Ziel des Aufstandes wie folgt umreißt. Wörtlich:
„Der rote Aufstand war eine in der Geschichte einzig dastehende revolutionäre Handlung. Denn: Rebellen, Revolutionäre gehen auf die Barrikaden, um bestehende Verfassungen zu stürzen und bestehende Verhältnisse zu ändern. Die Schutzbundrebellen vom 12. Februar standen aber auf den Barrikaden zur Verteidigung der in Geltung stehenden österreichischen Verfassung.“
Die Frage des Motives des Aufstandes zeigt auch die – mir persönlich
in der heutigen Zeit immer unverständlicher werdende – Kluft
zwischen den einstmals verfeindeten Lagern. Diese Kluft – so Helmut
Konrad in der Publikation des steirischen Symposiums zu diesem Thema im Vorjahr – ist die deutlichste politische Scheidelinie zwischen den beiden großen – heute mittelgroßen - Parteien, die sich aus den fast 130 Jahren Parteigeschichte in Österreich ableiten lässt. Und – so Helmut Konrad wörtlich: „Diese Scheidelinie ist für die Sozialdemokraten angenehmer als für die Konservativen: Es ist klarerweise leichter vertretbar, die Demokratie verteidigt als beseitigt zu haben.“
Mythos Nummer sechs: Das Herrschaftssystem 1933 bis 1938 war ein „Ständestaat“, keine Diktatur.
Der ursprüngliche Plan des Regimes, mit der Verfassung am 1. Mai 1934 einen Ständestaat einzurichten, der eine eingeschränkte pseudo- demokratische Mitbestimmung des Volkes ermöglicht hätte, ist in Theorie und Praxis klar gescheitert. Das Herrschaftssystem 1933 bis 1938 war in seinen Merkmalen eine völlig durchgebildete Diktatur, wie zuletzt Emmerich Tálos und Helmut Wohnout detailliert dargelegt haben. Helmut Wohnout qualifiziert das Regime als „Regierungsdiktatur“ oder noch besser: „Kanzlerdiktatur“. Eine Bezeichnung, die Reinhold Mitterlehner unlängst anlässlich der 70- Jahre-Feier der ÖVP übernommen hat.
Tatsächlich war die Diktatur eine autoritäre mit vereinzelten totalitären Zügen.
In der gesamten neueren Literatur zum Thema wird die Qualifikation des Herrschaftssystems als „Diktatur“ nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Dennoch scheint die kritiklose Übernahme der euphemistischen und völlig irrigen Selbstbezeichnung des Regimes als „Ständestaat“ in Medien und Literatur unausrottbar.
Siebentens: Das Herrschaftssystem 1933 bis 1938 war kein „Unrechtsstaat“.
Kein Mythos, wiederum eine These, und diese These ist auch für mich grundsätzlich nachvollziehbar.
Ein „Unrechtsstaat“ ist nach gängiger juristischer Definition ein Staat, der sich systematisch über das Recht hinweg setzt und BürgerInnen staatlichem Unrecht schutzlos preisgibt. Nach dem deutschen Generalstaatsanwalt und Rechtstheoretiker Fritz Bauer fallen in diese Definition nur das nationalsozialistische Deutsche Reich und die stalinistische Sowjetunion.
Wenn man aber den Begriff weiter auslegen möchte – wie die
Diskussionen vor allem in Deutschland zeigen -, sind davon etwa auch
die spanische Diktatur oder die DDR umfasst. Will man das tun,
könnte auch die österreichische Diktatur unter den Begriff fallen.
Ohne die Debatte – die im Übrigen noch tieferer Forschung über das Ausmaß der Repression bedarf - abschließen zu wollen, meine ich, dass die Qualifikation der Urteile und Bescheide der Diktatur gegen Andersdenkende im Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2011 – ich werde darauf noch zu sprechen kommen – als „Unrecht im Sinne des Rechtsstaates“ stimmig ist und vorerst zureicht.
Mythos Nummer acht: Engelbert Dollfuß war ein menschlich anständiger, integrer Mensch, der das Beste für Österreich gewollt hat.
Den Satz hört man erfreulicher Weise immer seltener, er ist durch nichts gerechtfertigt. Er ist vielmehr Teil eines Dollfuß-Mythos, der in Zeiten der Diktatur als Führer-Totenkult entstanden ist und schließlich in der Zweiten Republik zum unhaltbaren Bild vom „Märtyrerkanzler“ ausgestaltet wurde. Lucile Dreidemy hat diesen Prozess äußerst detailreich und quellengesättigt schlüssig dargelegt.
Dollfuß war nicht von Anbeginn Antidemokrat, er ist aber auch nicht in die Diktatur „geschlittert“ wie manche Apologeten meinen. Er hat vielmehr – genervt von den Mühen eines demokratischen Regierens mit nur einer Stimme Überhang im Nationalrat – bewusst und willentlich die Diktatur gewählt und mit brutalen Mitteln durchgesetzt.
Die Gewalt bei der Niederwerfung des Aufstandes der Sozialdemokraten war völlig unverhältnismäßig, der Einsatz der Artillerie gegen Arbeiterwohnungen unverzeihlich. Sicher gab es – wie in allen bewaffneten Auseinandersetzungen – auch Übergriffe der Gegenseite, bei ihrer Bewertung muss man aber jedenfalls die Legitimität des Aufstandes einerseits und die ungleichen Kräfteverhältnisse andererseits berücksichtigen. Eine Aufrechnung – die im Übrigen an die Aufrechnung der nationalsozialistischen Gräuel gegenüber einzelnen unbestreitbaren Kriegsverbrechen der Alliierten erinnert – ist jedenfalls unzulässig.
Von den vielen Untaten Dollfuß ́ sei exemplarisch noch eine weitere erwähnt. Die Hinrichtung des steirischen Abgeordneten zum Nationalrat, Koloman Wallisch, war ein anbefohlener – mit dem juristisch schärfsten Vorsatz, nämlich Absichtlichkeit –herbeigeführter Justizmord aus niederen Motiven, den Dollfuß gemeinsam mit dem Justizminister Kurt Schuschnigg zu verantworten hat. Die näheren Umstände sind bei Rudolf Neck oder in jüngerer Zeit beim Rechtshistoriker der Universität Graz Martin Polaschek nachzulesen.
Dass nun der – aus einer kurzen Notiz nicht mit Sicherheit ableitbarer, aber durchaus argumentierbarer – Verdacht besteht, Dollfuß habe erwogen, gegen streikende Arbeiter der Elektrizitätswerke Wien-
Simmering Giftgas einzusetzen, um die Substanz des Gebäudes und der Maschinen zu schonen, ist da nur noch das Tüpfelchen auf dem I.
„Halb so tragisch“ meinen manche Apologeten des kleinen Mannes mit den großen Ambitionen, “es war eh kein Giftgas verfügbar.“ Kurt Bauer – der heute vielleicht noch etwas dazu sagen wird – wiederum meint, dass keinesfalls Giftgas, sondern höchstens Tränengas gemeint sein könne. Wenn ich die Argumentation richtig verstanden habe, muss man dann wohl das Wort „vergasen“ als „begasen“ begreifen.
Neuntens: Die Regierungen Dollfuß/Schuschnigg haben der Frau ihre Würde wieder zurückgegeben.
Ein Mythos selbstverständlich, mit dem wir uns nicht lange aufhalten brauchen.
Die Doppelverdiener-Verordnung hat die Frauen aus dem öffentlichen Dienst gedrängt. Die Diktatur forderte die privaten Arbeitgeber brieflich auf, ihr weibliches Personal zu kündigen. Unter den 213 sogenannten Mandataren der Diktatur auf Bundesebene gab es nur zwei Frauen, nämlich in dem völlig unbedeutenden Bundeskulturrat.
Vom Geist des – so schwer errungenen – Gleichheitssatzes nach Artikel 7 der demokratischen Verfassung blieb in der Praxis keine Spur.
Zehntens: Die österreichische Diktatur war nicht faschistisch – auch ein Mythos?
Ich glaube nicht, dass es sich hier um einen Mythos handelt, sondern einmal mehr um eine These, die vertretbar ist. Aber auch ihr kann ich schlussendlich nicht viel abgewinnen.
Unbestritten ist, dass die österreichische Diktatur viele, aber nicht alle Merkmale des Faschismus erfüllte. Auf Details kann ich aus Zeitgründen nicht eingehen.
Exemplarisch darf ich mich aber auf die Begründung von Lucile Dreidemy und Florian Wenninger beziehen, warum die Bezeichnung des Regimes als austrofaschistisch zutreffend ist. Die beiden sehen im österreichischen Regime den Versuch, in Anlehnung an Italien einfaschistisches System „von oben“ zu etablieren. Und wörtlich: „Das Produkt dieser Bemühungen zeichnete sich neben einer chronischen Instabilität durch eine Reihe von Spezifika aus, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer eigenen Unterkategorie des Faschismus auszugehen: eben dem Austrofaschismus.“
Sporadisch wird – zuletzt von Andreas Khol und Karl Gottfried
Kindermann – den Benutzern des Begriffs Austrofaschismus
vorgeworfen, man wolle damit die österreichische Diktatur mit dem
Nationalsozialismus gleichsetzen. Dazu kann man nur sagen: Wer das tut, muss allerdings von Sinnen sein. Aber: Mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich kann man ja auch nicht Franco-Spanien und nicht einmal Mussolinis Italien gleichsetzen. Nach dieser Logik käme man zum Schluss, dass auch Italien – als Prototyp des Faschismus – gar nicht faschistisch war.
Ich habe im Übrigen unlängst eine Untersuchung durchgeführt, wonach mehr als die Hälfte der Autorinnen und Autoren der Buchpublikationen der letzten Jahre zur österreichischen Diktatur diese als Austrofaschismus bezeichnen, und zwar ohne Anführungszeichen. Zählt man andere oftmals verwendete Definitionen, die das Wort Faschismus in sich tragen – wie„Klerikalfaschismus“, „Imitationsfaschismus“, „Kryptofaschismus“, „Beamtenfaschismus“, „Halbfaschismus“, „autoritäres System mit faschistischen Elementen“ etc. – hinzu, ergibt sich, dass knapp zwei Drittel der WissenschafterInnen mittlerweile den Faschismus-Begriff verwenden.
Ich gehe also davon aus, dass diese Definition, die auch Emmerich Talos in seiner jüngsten Monografie beeindruckend dogmatisch untermauert hat und in den Medien immer öfter und unbefangener verwendet wird, gute Chancen hat, sich als die griffigste Qualifikation der österreichischen Diktatur durchzusetzen.
Für mich persönlich ist das übrigens keine Fahnenfrage: Eine Diktatur – ob nun faschistisch, marxistisch oder anders ideologisch begründet – ist ein Übel an sich. In der – Helmut Konrad hat einmal gesagt: antimodernen - österreichischen Diktatur wurde misshandelt und gedemütigt, in Anhaltelager gesperrt, gehängt und gefoltert. Das mag genügen.
Elfter und letzter Mythos: Die österreichische Diktatur war ein Widerstandsprojekt gegen den Nationalsozialismus, zu ihr gab es keine Alternative.
Zum Zeitpunkt der Errichtung der Diktatur war das demokratische Projekt noch lange nicht zu Ende. Wo waren die konkreten Angebote an die Sozialdemokratie, sich im Anbetracht dernationalsozialistischen Bedrohung zu einer „wehrhaften Demokratie“ zusammen zu schließen.
Wo war die Bereitschaft, den ungebremsten Kapitalismus, der unmittelbar in die Weltwirtschaftskrise geführt hatte, durch Etablierung einer „sozialen Marktwirtschaft“ mit einer staatlichen Investitionsleitfunktion und Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu zügeln, wie dies nach 1945 auch gelingen sollte. Anderswo waren erste ambitionierte Ansätze dafür vorhanden, gerade auch in kapitalistisch geprägten Ländern – wie der „New Deal“ in den USA oder sehr vielversprechende sozial- und wirtschaftspolitische Weichenstellungen in Großbritannien mit seiner „Cheap – money- policy“ ab 1932. Schweden und sogar die Schweiz hätten ebenfalls als Vorbilder dienen können .[Gerhard Senft]
Stattdessen wurde die soziale Dimension des realen staatlichen Fundaments überhaupt nicht erkannt, vielmehr versucht, nicht nur die autoritären Fantasien auszuleben, sondern neben einer völlig verfehlten Austeritätspolitik sogar die so wichtigen arbeits- und sozialrechtlichen Schutzgesetze – die die Arbeiterbewegung bis Anfang der 1920er Jahre erkämpft hatte und heute noch einen wesentlichen Teil des österreichischen Arbeits- und Sozialrechts bilden - als „revolutionären Schutt“ wieder zu beseitigen.
Die völlige Diskreditierung des demokratischen Gedankens kann schon theoretisch keine geeignete Abwehrmaßnahme gegen eine Konkurrenzdiktatur sein. Dies zeigte sich im Austrofaschismus auch in der Praxis: Die Repression des Regimes richtete sich in erster Linie gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, während man nach der konsequenten – vor allem dem eigenen Überlebenstrieb geschuldeten – Verfolgung der Juli-Putschisten die Nationalsozialisten – insbesondere im Bildungswesen – weiter fröhliche Urständ feiern ließ, dann pardonierte und schließlich in die Regierung aufnahm.
Anbote der Linken – insbesondere der demokratischen Gewerkschaften – im Gegenzug zu einer teilweisen Wieder-Inkraftsetzung demokratischer Prinzipien - einen letzten Schulterschluss gegen die feindliche Übernahme des Unternehmens Österreich zu versuchen, wurden abgelehnt. Diese despotische Anmaßung nahm einer breiten Abwehrfront gegen die braune Flut jede Chance. Eine wehrhafte Demokratie hätte sicherlich anderes vermocht.
Es gäbe noch viel mehr Mythen und Thesen zu erörtern – etwa, dass die österreichische Diktatur ein „sozialer Staat“ gewesen sei -, doch will ich es aus Zeitgründen mit elf bewenden lassen. Vielmehr möchte ich – langsam zum Schluss kommen, meine Damen und Herren – ganz kurz auf die allgemeine Bewertung der österreichischen Diktatur eingehen. Ich tu das umso lieber, als hier in den letzten Jahrzehnten doch erhebliche Fortschritte erzielt werden konnten.
Vieles, was wir heute als Mythen erkennen, war vor einigen Jahrzehnten noch das, was wir in der Rechtswissenschaft die „herrschende Lehre“ nennen.
Ich meine – mit zahlreichen anderen Autorinnen und Autoren -, dass nach langjährigen Kontroversen das Urteil über die österreichische Diktatur 1933 bis 1938 in den wesentlichen Hauptfragen gesprochen ist. Und auch politisch sind die wichtigsten Pflöcke zur Einordnung des Regimes eingeschlagen:
„Unrecht im Sinne des Rechtsstaates“ und „demokratischen Prinzipien widersprechend“ sind Attribute, die die Republik Österreich des Jahres 2012 im - einstimmig beschlossenen - Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz der Dollfuß-/Schuschnigg Diktatur zuordnet. Mit dem Gesetz wurden die Urteile und Bescheide dieses Herrschaftssystems gegen Regimegegnerinnen und –gegner aufgehoben und diese rehabilitiert. Ilse Reiter-Zatloukal hat das Werden dieses bemerkenswerten Gesetzes detailliert dargelegt, aber auch juristische Unschärfen offengelegt.
Bereits im Initiativantrag ist es Sozialdemokraten, Christdemokraten und Grünen gelungen, eine historisch bemerkenswert stimmige Kompromissformel dem Parlament vorzulegen. Wörtlich: „Ein bedeutsamer Teil österreichischer Zeitgeschichte liegt in den – im gewaltsamen Handeln kulminierten – politischen Auseinandersetzungen während der Ersten Republik. ... damals sind Menschen ihrer demokratischen Rechte beraubt, an Leib, Leben und Eigentum beschädigt, strafgerichtlich verurteilt, verwaltungsbehördlich angehalten und aus dem heimatlichen Staatsverband ausgestoßen (ausgebürgert) worden, die sich für den Erhalt eines unabhängigen und demokratischen Österreich eingesetzt haben.“
Der Kompromiss mag Defizite aufweisen, doch hat das offizielle Österreich – weil ja nicht beide Recht haben können, wie Ernst Hanisch in anderem Zusammenhang, einmal zutreffend angemerkt hat – ein klares Werturteil gegen die Diktatoren und für den Widerstand getroffen.
Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit