Rede zur Präsentation des Projekts "12 lila Winkel" im Gärner Park in Leoben am 24.9.2015
Günter Grass, der Nobelpreisträger für Literatur, wurde in jungen Jahren zur Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes zum Arbeitsdienst - zu einer Organisation also, die u.a. die vormilitärische Erziehung Jugendlicher sicherstellen sollte - eingezogen.
In seiner vielbeachteten und vieldiskutierten Biografie "Beim Häuten der Zwiebel" erinnert er sich an einen - jetzt wörtlich - "hochaufgeschossenen Jungen, der weizenblond und im Profil so ...
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bedanke mich bei den Herren Promebner und Tschoggl für die Einladung zur Präsentation dieses so wichtigen Projekts „12 lila Winkel“ über die Verfolgung der ZeugenJehovas zur Zeit des Nationalsozialismus.
Günter Grass, der Nobelpreisträger für Literatur, wurde in jungen Jahren zur Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes zum Arbeitsdient – zu einer Organisation also, die u.a. die vormilitärische Erziehung Jugendlicher sicherstellen sollte – eingezogen.
In seiner vielbeachteten und vieldiskutierten Biografie „Beim Häuten der Zwiebel“ erinnert er sich an einen – jetzt wörtlich – „hochaufgeschossenen Jungen, der weizenblond, blauäugig und im Profil so langschädlig geraten war, wie ihn sonst nur Lehrtafeln für die Aufzucht der nordischen Rasse beispielhaft ins Bild brachten. Kinn, Mund, Nase, Stirn gaben, mit einer Linie gezeichnet, dieZeugnisnote „rasserein“ ab. Ein Siegfried, der heller strahlte als das Tageslicht. ... Niemand war ausdauernder beim Dauerlauf und mutiger beim Sprung über modrige Gräben. Kein anderer war so fix, wenn es darum ging, in Sekundenschnelle eine steile Kletterwand zu überwinden. Fünfzig Kniebeugen schaffte er, ohne zu ermatten. ... Nichts, kein Tadel trübte sein Bild. Doch zur wirklichen Ausnahme wurde er, dessen Vor- und Nachname mir wie ausgelöscht sind, durch Verweigerung.“
Günter Grass weiter: „Er wollte nicht Gewehrgriffe kloppen. Mehr noch: Er weigerte sich, Kolben und Lauf der Waffe anzufassen. Noch schlimmer: Wurde ihm der Karabiner vom stets todernsten Unterfeldmeister in die Hand gedrückt, ließ er ihn fallen.“
„Jegliche Art von Strafdienst wurde ihm auferlegt, man hatte Geduld, aber nichts half. Sogar das Ausschöpfen der Mannschaftslatrine mit dem Eimer an langer Stange, in dem Gewürm wimmelte“ - eine besonders demütigende Strafe -, „besorgte er ohne Widerspruch stundenlang gründlich, indem er, von Fliegen umwölkt, die Scheisse ... aus der Grube holte und zum Abtransport randvoll in Kübel füllte, um danach, frisch geduscht und angetreten zur Gewehrübernahme, wiederum den Zugriff zu verweigern: Wie in Zeitlupe sehe ich die Waffe fallen und im Staub aufschlagen.“
„Immer wieder fragen die Vorgesetzten oder seine Kameraden: „Warum machen Sie das,Arbeitsdienstmann?“ – „Wieso machst du das, du Idiot?“ Seine nie variierte Antwort geriet zur Redensart und ist für mich alle Zeit zitierbar geblieben: „Wir tun sowas nicht.“
„Einige gaben sich witzig, ohne viel Gelächter zu ernten: „Son Spinner gehört ins Konzentrationslager!“ Jemand wusste: „Das ist ne Sekte, die sowas nicht tut. Sind deshalb verboten, die Zeugen Jehovas.“
Günter Grass, der mit seinem berühmten Roman „Die Blechtrommel“ enorm viel für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus beitragen sollte, hat sich nach dem Arbeitsdienst freiwillig in die Waffen-SS gemeldet und ist damit Teil einer Mordmaschinerie geworden, die im Zuge eines Vernichtungskrieges mit unfassbaren Gräueln fünfzig bis sechzig Millionen toter Menschen zu verantworten hat.
Aus jeder Zeile von Günter Grass über diesen so bemerkenswert mutigen jungen Mann ist herauszulesen, wie sehr er ihn bewundert und wie gerne er selbst – im Nachhinein betrachtet – diese unglaubliche Standhaftigkeit gegenüber einem Terrorregime aufgebracht hätte.
Was aus dem Menschen, den er in seiner Biografie nur „Wirtunsowasnicht“ nennt, weiß Günter Grass nicht, aber der junge Mann wird für seinen Glauben und seinen Mut bitter – durchaus wahrscheinlich auch mit seinem Leben – bezahlt haben.
Die Zeugen Jehovas – oder „Bibelforscher“, wie sie sich selbst bis 1931 nannten und auch offiziell im Dritten Reich genannt wurden – standen dem Nationalsozialismus von Anbeginn ablehnend gegenüber. Sie hatten zum erklärten Ziel, dass nicht ein Mensch – und schon gar nicht ein selbsternannter Führer wie Adolf Hitler – sondern Jehova Gott diese Welt regieren sollte. Die Nationalsozialisten wiederum – und insbesondere ihre völkisch-nationale Presse - bemühte sich mit aller Kraft, die Bibelforscher als von Juden und Freimaurern finanzierte Organisation darzustellen, die eine bolschewistische Revolution vorbereite. Auch die religiös-ideologische Herkunft der Zeugen Jehovas aus den – als „verjudet“ verleumdeten –Vereinigten Staaten von Amerika wurde als Bedrohung ausgelegt.
Die Bibelforscher verkündeten den bevorstehenden Untergang aller staatlicher Organisationen und Kirchen, die ihrer Auffassung nach unter der Herrschaft Satans stünden. Dabei betonten sie ihre „politische Neutralität“ und erklärten ausdrücklich, dass die Vernichtung von Staaten und Kirchen ausschließlich durch Jesus und Jehova erfolgen sollte. Einerseits trug das Weltbild der Zeugen Jehovas damit selbst totalitäre Züge, andererseits waren sie im besonderen Maße den Menschenrechten verbunden und betonten insbesondere die Gleichheit aller Menschen.
Bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Deutschen Reich – nämlich am 24. Juni 1933 – wurden die Zeugen Jehovas in ganz Deutschland verboten. Man wehrte sich mit einer internationalen Protestkampagne. Beginnend mit Oktober 1934 wurden etwa 20.000 Telegramme und Briefe aus der ganzen Welt, in denen gegen die Unterdrückung der Glaubensbrüder und - schwestern im nationalsozialistischen Deutschland protestiert wurde, an Adolf Hitler zugestellt. Der Führer soll daraufhin gesagt haben: „Diese Brut wird in Deutschland ausgerottet.“
Darüber hinaus machten die Zeugen Jehovas 1936/37 in großen Flugblatt-Verteilaktionen auf ihre missliche Lage aufmerksam. Es gelang ihnen, etwa 100.000 Flugblätter zu verbreiten, was als die größte Protestaktion während der Herrschaft des Nationalsozialismus anzusehen ist. Naturgemäß verschärfte sich sofort die staatliche Repression, an der sich auch die etablierten Kirchen – also die katholische und die evangelische – mit einem Eifer beteiligten, der mit bloßem Opportunismus nicht erklärbar ist. So riefen etwa hohe Repräsentanten der evangelischen Kirche dazu auf, Aktivitäten von Zeugen Jehovas umgehend an die Gestapo zu melden.
Die Zeugen Jehovas verwehrten dem Regime insbesondere den „Hitler-Gruß“, was viele von ihnen bereits früh in die Konzentrationslager brachte. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich die Lage, weil ein erheblicher Teil der Männer der Glaubensgemeinschaft sich auch weigerte, Wehrdienst zu leisten. In großer Zahl wurden sie zum Tode verurteilt und hingerichtet – aus unserer Region etwa (wie wir schon gehört haben) Rupert Sauseng und Richard Haiden. Sauseng und Haiden hätten ihre Hinrichtung durch eine einfache Unterschrift verhindern können. Sie taten es nicht. Ihr religiöses Gewissen und ihre Courage waren stärker.
Auch Frauen aus der Religionsgemeinschaft wurden inhaftiert, in der Regel wegen Wehrkraftszersetzung oder nach dem sogenannten „Heimtückegesetz“. In den Frauen- Konzentrationslagern stellten sie in der Regel die größte Gruppe.
In den Konzentrationslagern wurden Zeugen Jehovas mit dem „lila Winkel“ gekennzeichnet, anders als ihre katholischen und protestantischen Leidensgenossinnen und –genossen, die den politischen Häftlingen zugerechnet wurden und die den roten Winkel zu tragen hatten.
Ab 1942 haben sich die Überlebenschancen für die deutschsprachigen Zeugen Jehovas im KZ erhöht, weil sie angesichts der enormen Steigerung der ausländischen Häftlinge vermehrt in die Häftlingsselbstverwaltung und in die Lagerbewirtschaftung eingebunden wurden. Ihre Gewissenhaftigkeit bei der Erledigung der ihnen übertragenen Aufgaben sowie ihre Gewaltablehnung machten sie zu verlässlichen Häftlingen, von denen weder Flucht noch Intrigen zu erwarten waren.
1933 – zu Beginn der Machtergreifung Hitlers – gab es in Deutschland ungefähr 25.000 bis 30.000 Zeugen Jehovas. Bis 1945 – also in 12 Jahren – wurden 11.300 deutsche undausländische „Bibelforscher“ inhaftiert. 2.000 Personen kamen in Konzentrationslager, 950 deutsche - inklusive der angeschlossenen „Ostmark“ - und 540 ausländische Verfolgungsopfer überlebten die Haftbedingungen nicht, wurden ermordet oder hingerichtet. Unter diesen 1.490 Toten aus der Glaubensgemeinschaft befinden sich auch die 270 als Kriegsdienstverweigerer Exekutierten. Die Forschung ist aber noch lange nicht abgeschlossen, die Zahlen müssen regelmäßig nach oben korrigiert werden.
Die Zeugen Jehovas waren keine klassischen Widerstandskämpfer. Das Bestreben, seinen eigenen religiösen Glauben gegen alle Hindernisse zu bewahren, ist wohl nicht dem aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus zuzuordnen. Die Zeugen Jehovas wurden vorrangig nicht für das verfolgt was sie taten – etwa für ihren Einsatz für Recht, Freiheit, Demokratie oder andere Werte -, sondern für das, was sie ablehnten. Sie haben aber insbesondere durch ihre Wehrdienstverweigerung einen wesentlichen Beitrag zur Verkürzung des Krieges geleistet. Jeder Mann weniger für die deutsche Wehrmacht war eine Unterstützung für die alliierten Befreier und im Übrigen auch ein Gewinn für das wiedererstehende Österreich.
Dass man – um langsam zum Schluss zu kommen, meine Damen und Herren - diese couragierte und aktive Haltung den Zeugen Jehovas – wie auch den aktiven Widerstandskämpfern – nach 1945 gedankt hätte, kann man nicht gerade behaupten. Dies zeigt etwa eine Episode aus der katholischen Kirche, die sich – wie viele andere Institutionen auch – mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, in den man teilweise selbst verstrickt war, sehr schwer tat.
1946 sollte ein Artikel über Franz Jägerstätter, der wie die Zeugen Jehovas sein religiöses Gewissen über die sogenannte „Pflichterfüllung“ gestellt hatte, in der Linzer Kirchenzeitung abgedruckt werden. Der Linzer Bischof Josephus Fließer unterband dies mit der Begründung – ich zitiere wörtlich: „Ich halte jene idealen katholischen Jungen und Theologen und Priester und Väter für die größeren Helden, die in heroischer Pflichterfüllung ... gekämpft und gefallen sind. Oder sollten etwa Bibelforscher“ – also die Zeugen Jehovas – „undAdventisten, die „konsequent“ lieber im KZ starben als zur Waffe griffen, die größeren Helden sein?“
Fließer beantwortete seine – rhetorische - Frage selbst und entschied sich für die Erstgenannten, die angeblich zäh wie Leder, schnell wie Windhunde und hart wie Kruppstahl für die sogenannte Ehre Deutschlands gefallen sind und heute auf den sogenannten Heldendenkmälern – der Schriftsteller
Erich Hackl hat einmal richtig gemeint: ein Krebsgeschwür, das dieses Land überzieht – bei jedem zweiten Kirchentor aufgelistet sind.
Es gibt aber solche Helden nicht. Es gibt nur Menschen, die man missbraucht hat, denen man einen Soldatenrock angezogen hat und sie für eine menschenverachtende Wahnidee, die ihresgleichen sucht in der Weltgeschichte – und im übrigen auch im Kampf gegen ein freies und demokratisches Österreich – sterben ließ.
Die Zeugen Jehovas haben sich in schwerer Zeit für anderes entschieden. Deshalb könnten wir, meine Damen und Herren, die wir gelernt haben, mit der Geschichte verantwortungsvoll umzugehen, heute Bischof Fließer – und ich betone es nochmals: der nur stellvertretend für die überwiegende Geisteshaltung in der Nachkriegszeit stand - antworten: „Wenn man schon den Begriff „Helden“ strapazieren möchte, dann waren das diese mutigen Verweigerer der üblichen Pflichterfüllung, die ihre religiöse Integrität über ihr Leben gestellt haben.“
Ich danke für die Aufmerksamkeit.