Rede beim Landestag der Sektion XXI der GÖD am 22.2.2016
im Festsaal der AK Steiermark
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Sektionsvorsitzende Bernhard Koller hat mich gebeten, bei unserem Landestag der GÖD einige Worte zur geschichtlichen Entwicklung der Österreichischen Gewerkschaft und ihre Auswirkung auf die Gegenwart und Zukunft, auch im Lichte der europäischen Gewerkschaftsbewegung, zu sprechen. Ich will das gerne tun.
Die Gewerkschaften allgemein sind zumeist aus der europäischen Arbeiterbewegung hervorgegangen und setzen sich seit ihrem Bestehen für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und deren Verrechtlichung, mehr Mitbestimmung, für Arbeitszeitverkürzung und – und das ist wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen – teilweise auch für weitergehende Gesellschaftsveränderung ein.
Da es keine richtige oder optimale Aufteilung der wirtschaftlichen Gewinne innerhalb einer Gesellschaft gibt, ist die Verteilung eine Machtfrage, die von beiden Parteien – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – entsprechend ihrer Interessenslage unterschiedlich beurteilt wird. Gewerkschaften haben auf einem schmalen Grad zu wandern: Zum einen haben sie die Lebensbedingungen der Kolleginnen und Kollegen zu verbessern, zum anderen müssen sie darauf achten, dabei die Milchkuh nicht zu schlachten.
Insbesondere weil in Österreich selten gestreikt wird – darauf werden wir später noch zurückkommen –, tragen die Gewerkschaften zu einer stabilen Grundlage der Wirtschaft bei.
Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in Österreich hat ihre Wurzeln in frühen Berufsvereinigungen, mit denen ich euch hier nicht langweilen will. Von den eigentlichen Gewerkschaften reden wir seit dem Koalitionsgesetz 1870, in welchem die Monarchie auf Druck der Arbeiter es
gestattete, sich zu Arbeitnehmerinteressenorganisationen zusammen zu schließen. Und hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir bereits bei der Grundfrage der Gewerkschaften an sich, die auch für Gegenwart und Zukunft ganz wesentlich ist, weil mit der Koalitionsfreiheit untrennbar das Streikrecht verbunden ist.
Um zu zeigen, dass diese Entwicklung nicht ganz so selbstverständlich war, müssen wir ganz kurz auf die französische Revolution, die Geburtsstunde der Menschen- und Bürgerrechte zurückgreifen. Dort setzte sich schlussendlich das Bürgertum durch, das einem uneingeschränkten Kapitalismus huldigte, heute würde man sagen extrem neoliberal war, auch wenn man zwischendurch der Sansculotterie – das sind die Habenichtse, also jene Menschen, die sich nicht einmal eine Hose leisten konnten – Zugeständnisse einräumen musste.
Bereits 1791, also zwei Jahre nach Beginn der Revolution, zwei Jahre nach der Bürgerrechtserklärung, wonach angeblich alle Menschen frei und gleich und in Brüderlichkeit verbunden sein sollten, erließ man die sogenannte „Loi le Chapelier“: Das Gesetz verbot nicht nur alle dem freien Markt hinderlichen zunftähnlichen Korporationen, sondern in extremer Auslegung der Idee der Vertragsfreiheit auch alle Absprachen zwischen Arbeitnehmern, um gemeinsam Einfluss auf die Arbeitsbedingungen, insbesondere auf die Löhne zu nehmen. Konsequent stellte es auch jede organisierte Arbeitsniederlegung unter Strafe.
Was hat nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz, das mehr als 200 Jahre dahinmodert, mit der heutigen Gewerkschaftsbewegung zu tun? Sehr viel – Margaret Thatcher, deren sogenannte Leistung in Großbritannien unter anderem darin bestand, eine der letzten wirksamen Barrieren gegen den neoliberalen Raubbau, nämlich die Gewerkschaften, entscheidend zu schwächen, berief sich ja bewusst und ausdrücklich auf dieses Gesetz aus der französischen Revolution.
Genau nach dieser Schule versucht man – nämlich europaweit – die sogenannte „Verrechtlichung der Gewerkschaften“ – und damit die verfassungsrechtlichen Verankerungen ihres sozialpolitischen Handlungsfeldes – in Frage zu stellen. So versuchen willfährige Exponenten des Juristenverbandes in Deutschland in ihren gewerkschaftsfeindlichen Ressentiments bereits, den juristischen Boden zur Beschneidung der Rechte der kollektiven Interessensvertretung aufzubereiten.
Eine Vertreterin dieser seltsamen Zunft schreibt in der renommierten Wochenzeitung „Die Zeit“: Die Gewerkschaften maßen sich an, politische Reformen zu blockieren, die im Interesse der ganzen Gesellschaft liegen. Dafür missbrauchen sie den Arbeitskampf. Es ist höchste Zeit ein Tabu zu brechen: Das Streikrecht muss beschnitten werden. Die Verhältnisse, unter denen es im 19. Jahrhundert entstand, haben sich längst geändert.“
Dazu kommen Forderungen aus der Wirtschaft, die Arbeitnehmerinteressenvertreter aus den Aufsichtsräten in den Unternehmen zu beseitigen, weil solche Art von Mitbestimmung „nicht mehr zeitgemäß“ sei.
In Österreich ist das Recht der Gewerkschaften, im Konfliktfalle Produktionsprozesse zu unterbrechen, überhaupt juristisch umstritten – wir erinnern uns, dass bereits bei den organisierten Betriebsversammlungen gegen die unsoziale Politik von Schwarz-Blau in den Jahren 2002 und 2003 einzelne Arbeitgeber gedroht haben, Schadenersatzklagen in Millionenhöhe gegen die Gewerkschaften zu erheben und ihnen dadurch – wörtliches Zitat – „das Rückgrat zu brechen“.
Koalitionsfreiheit und Streikrecht sind aber die Lebensgrundlage einer Gewerkschaft, die für jene Menschen verantwortlich ist, die abhängig tätig sind und sich der Logik von Kapital und Markt wehrlos ausgesetzt fühlen. Ihre Einschränkung oder gar Abschaffung rührt an die Grundelemente einer demokratisch verfassten Ordnung.
Immerhin bringt der EU-Reformvertrag von Lissabon zarte Ansätze eines Streikrechts, und man kann, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem EU-Vertrag stehen wie man will, sicher ist auch die eine oder andere Kritik angebracht, aber eines ist auch klar: Er installiert erstmals auch – wenn auch nur mittelbar verbindliche – soziale Grundrechte in Europa. Und da ist man weiter als wir hier in Österreich. Wir haben nämlich – da sind wir allein mit Großbritannien – keine solchen Grundrechte. Daran konnte im Übrigen auch das – von der Gewerkschaft maßgeblich getragene – Volksbegehren 2002 mit über 700.000 Eintragungen, das nun in irgendeiner Schublade verstaubt, nichts ändern. Auch das ist österreichische Gewerkschaftsgeschichte.
Anders als der österreichische Gewerkschaftsbund heute waren Gewerkschaften der Anfänge Richtungsgewerkschaften, d.h., sie fühlten sich einzelnen Parteien und politischen Bewegungen verpflichtet. Dementsprechend uneinheitlich waren ihre Ziele, ihr Auftreten und ihre Strategien. Dessen ungeachtet gelang es schon in der Monarchie, wichtige Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen und die Lebensbedingungen der Arbeiterin, des Arbeiters etwas zu verbessern.
Die erste große Zeit der Gewerkschaften kam mit der Errichtung der Republik. Bis 1920 konnten auf Grund des explosiven Druckes der Straße – dort agierten Arbeiter-Soldatenräte – der besitzbürgerlichen Seite so bedeutende Gesetze abgerungen werden wie der Achtstundentag und die 48 Stunden Woche, das Betriebsrätegesetz mit der so wichtigen Außenseiterwirkung der Kollektivverträge, eine Arbeitslosenversicherung, der gesetzliche Urlaub, die Abschaffung des Arbeitsbuches, das Verbot der Kinderarbeit, die Regelung der Heimarbeit und ein umfassender Mieterschutz.
Dazu kam die Errichtung der Arbeiterkammer, weil dadurch die Arbeitnehmer–Interessensvertretung in Österreich einen einzigartigen Weg nahm: Zu der europaweit üblichen dualen Vertretung – Betriebsräte und Gewerkschaften – kam nun eine weitere Institution. Die Gewerkschaften nahmen gegenüber dieser trialen Interessenvertretung mit der Gefahr einer Konkurrenzierung im Vorfeld eine durchaus skeptische Haltung ein, sehr bald erkannten sie aber, welche besondere Chance für die Arbeitnehmerbewegung gerade in dieser Konstellation bestand.
Aber bereits ab dieser beispielslosen Sozialgesetzgebung, 1920 also, versuchte der Bürgerblock, der bis zur Zerstörung der Demokratie ununterbrochen regieren sollte, für seine Klientel – insbesondere die Bauern und die Unternehmer also – den „sozialpolitischen Schutt“, wie man die so wichtigen Schutzgesetze für die Arbeitnehmer zynisch bezeichnete, wieder wegzuräumen.
In den Betrieben und Unternehmen wurden Heimwehrgewerkschaften gegründet, die – als sogenannte „Gelbe“ – weniger den Arbeitnehmern, als den Fabriksherren selbst verpflichtet waren und den freien sozialdemokratischen Gewerkschaften das Leben schwer machten. Am Ende dieser Entwicklung standen bekanntlich die Errichtung der austrofaschistischen Diktatur in den Jahren 1933 und 1934 unter Dollfuß und die Unterdrückung der Gewerkschaften, die bis 1945 verboten bleiben sollten.
Das autoritäre Regime errichtete einen gleichgeschalteten Apparat, der ebenfalls den Namen „Gewerkschaftsbund“ trug und die Kontrolle der Arbeitnehmerschaft im Sinne der Diktatur sicherstellen sollte. Präsident dieser Institution war Johann Staud, zum einen ein bekennender Austrofaschist und zum anderen – verdeckt – ein Querverbinder zum Nationalsozialismus. Seine Doppelrolle nutzte ihm nach dem Anschluss an das totalitäre Dritte Reich 1938 allerdings wenig, er wurde deportiert und kam im Konzentrationslager um.
Als die Gefahr eines Anschlusses an das nationalsozialistische Deutsche Reich immer größer wurde, waren es die freien – verbotenen – Gewerkschaften, die dem Regime immer wieder anboten, gemeinsam gegen die Gefahr zu kämpfen. Das Regime – nunmehr unter Schuschnigg – war zu keinerlei Kompromiss bereit, die feindliche Übernahme durch das totalitäre Nazi-Reich folgte ohne ernstzunehmende Gegenwehr.
Das Kriegsende und den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft sahen alle demokratischen politischen Kräfte als neue Chance der
Zusammenarbeit, die auch tatsächlich genutzt wurde. Am 15. April 1945 legte man den Grundstein für den überparteilichen österreichischen
Gewerkschaftsbund. Auf Grund der – oftmals nicht guten – Erfahrungen mit den Richtungsgewerkschaften in der Vergangenheit signalisierte man von Anbeginn, dass der ÖGB in Zukunft Arbeitnehmerinteressen unabhängig von den Parteien zu vertreten haben wird, keinesfalls aber unpolitisch sein werde.
Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch ein ganz wesentlicher Punkt für die weitere Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung und ihre Zukunft. Ohne sich in die Rolle als Parteienersatz hineinmanövrieren zu lassen, haben die österreichischen Gewerkschaften seit jeher erkannt, dass sie sich nicht auf eine Rolle als Interessenvertretung der Mitglieder im ökonomischen Verteidigungskampf beschränken lassen dürfen, sondern politisch zu Fragen der gesellschaftlichen Ordnung und Entwicklung Stellung nehmen müssen.
Solche von den Gewerkschaften erwarteten „Kompetenzüberschreitungen“ betreffen beispielsweise die Organisation gesamtgesellschaftlicher Solidarität der ArbeitsplatzbesitzerInnen mit den Erwerbslosen oder den Aufbau eines zweiten Organisationszentrums in den Regionen als Erfahrungsräume der Mitglieder jenseits des Betriebes.
Und genau in diesem Sinne, liebe Kolleginnen und Kollegen, meinen deutsche und französische Autoren, dass Gewerkschaften ihr politisches und kulturelles Mandat noch viel mehr erweitern müssen, um in Zukunft erfolgreich zu sein. Das bedeutet nichts anderes als das, was die österreichischen Gewerkschaften immer sein wollten: Nämlich nicht nur eine bloße Interessenvertretung der Arbeitnehmer, sondern eine moralisch-politische Institution, die zu politischen Themen – vor allem zu den neoliberalen Veränderungen der Gesellschaft mit all den negativen Auswirkungen auf die Menschen, nämlich alle Menschen – Stellung bezieht.
Zurück aber zu den ersten Jahren des überparteilichen Gewerkschaftsbundes im Nachkriegsösterreich, in diese so schwierige Zeit, die von Zerstörung und Hunger geprägt war. Der Gewerkschaft gelang es von Anbeginn, ihre volle Stärke auszuspielen, und das war zum einen das Anwachsen der Mitgliedszahlen zu einer Massenbewegung und zum anderen die Einbindung in die Sozialpartnerschaft.
Die Sozialpartnerschaft erfloss aus dem Gedanken, dass der ungebremste Kapitalismus der Zwischenkriegszeit unmittelbar zu Faschismus und Krieg geführt hatte und man nunmehr im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft Wohlstand für möglichst alle Bevölkerungsteile sicherstellen müsse. Und da lag es auf der Hand, die Sozial- und Wirtschaftspartner schon im Vorfeld in die Entscheidungsfindung einzubinden, um die unterschiedlichen Interessen fair auszugleichen.
Die Sozialpartnerschaft ist keine undemokratische Nebenregierung, sondern das Herzstück der neuen Politik der Zweiten Republik und begründete die beispiellose wirtschaftliche Erfolgsstory Österreichs.
Erster Präsident des ÖGB war Johann Böhm. In der Steiermark hieß der erste Vorsitzende der ÖGB- Landesorganisation Fritz Matzner, ein Elektriker, Betriebsratsobmann, Landessekretär der freien Gewerkschaften, Abgeordneter zum Landtag und Widerstandskämpfer gegen beide Diktaturen, ein Gewerkschafter aller erster Güte also. Der ÖGB-Steiermark hat unlängst seinen Kommunikations- und Festsaal nach ihm benannt.
Schon in der Anfangsphase forderte man die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden, später auf 40 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Den Beschluss des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes im Nationalrat im September 1955 konnte sich der ÖGB als eigentlicher Urheber dieser Errungenschaft mit Recht auf die Fahne heften.
In der Ära Anton Benya, der von 1963 bis 1987 – also ein Viertel Jahrhundert – an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung stand, wurde die Sozialpartnerschaft gemeinsam mit dem kongenialen Pendant in der
Wirtschaftskammer, Rudolf Sallinger, zu ihrer Hochblüte gebracht, und zwar – und das ist wesentlich liebe Kolleginnen und Kollegen – auch in Zeiten der Alleinregierungen. Da wurde eben nicht drüber gefahren, wie später nach 2000.
Die Gewerkschaft dieser Zeit forderte einen Mindesturlaub von drei Wochen, dann vier, dann fünf Wochen, die Auszahlung von Abfertigungen auch an Arbeiter sowie in der Bildungspolitik kostenlose Schul- und Universitätsbildung und die Bereitstellung der Lehrmitteln in allen Schulstufen. All diese – für uns bescheiden oder selbstverständlich klingenden – sozialpolitischen Anliegen konnten erst in der Ära Kreisky verwirklicht werden, und sind –und das ist bedauerlich – heute teilweise wieder in Gefahr.
Auch wie man mit wirtschaftlichen Krisen umgehen sollte, zeigten unsere Altvorderen vor: Als Mitte der 60er Jahre die Hochkonjunktur einer Rezession gewichen war, forderte der ÖGB in einer Resolution zur wirtschaftlichen Lage die Belebung der öffentlichen und privaten Investitionstätigkeiten. Mit anderen Worten: Geld in die Hand nehmen, damit die Nachfrage steigt und die Konjunktur sich belebt. Im Gegensatz zu der Rezession während Schwarz-Blau hat die sozialdemokratisch geführte Regierung in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise diese Lehren weitgehend beherzigt. Und die deutschen Gewerkschaften fordern dieser Tage – und ganz zu Recht – einen neuen Marschallplan für Europa.
Die Ernte dieser Strategie konnte bereits einige Jahre später eingefahren werden, ab Beginn der 70er Jahre erlebte Österreich eine Hochkonjunktur und ein enormes Wirtschaftswachstum.
Und worum ging des der Gewerkschaftsbewegung noch in den 70er Jahren? Um die Einführung der Pflegefreistellung – erst 20 Jahre später, Mitte der 90er Jahre schließlich umgesetzt – und die Möglichkeit der Bildungsfreistellung für alle Arbeitnehmer, die wir bis heute nur auf sehr bescheidenem Niveau – Stichworte Bildungskarenz und Weiterbildungsgeld – verwirklicht haben.
Auch die Frauen stießen verstärkt zu den Arbeitnehmerinteressenvertretungen. 1979 fand sich die erste Frau im Präsidium des Gewerkschaftsbundes: Maria Metzker.
Es ist freilich nicht bei dieser einen Frau geblieben, die Gewerkschaft hat natürlich auch bei der gleichberechtigten Eingliederung der Frauen aufgeholt. Dass – wie in anderen Institutionen auch – eine entsprechende Parität noch nicht ganz hergestellt ist, liegt wohl weniger an macho-chauvinistischen Allüren der Organisation, sondern – wie Studien in Deutschland und Schweden nahe legen – vielmehr an den besonderen Arbeitsbedingungen, denen der Großteil der Frauen unterworfen ist: Hier sind zu nennen Teilzeitarbeit, Beschäftigung als freie Dienstnehmerinnen oder neue Selbständige, die Betriebsgröße und – mittlerweile abgeschwächt oder gar konterkariert – die Bildung.
Wenn aber Frauen für die Gewerkschaftsbewegung gewonnen sind, nehmen sie besonders bewusst Anteil. Eine deutsche Untersuchung unter „einfachen“ weiblichen Gewerkschaftsmitgliedern förderte zu Tage, dass diese Frauen aus dem gewerblichen wie aus dem Angestelltenbereich zum Teil mit großer Selbstverständlichkeit Gewerkschaftsmitglied sind. Sie sehen in den Gewerkschaften eine notwendige, ja unabdingbare Einrichtung der Interessenvertretung der Beschäftigten.
Im Übrigen wurden – zurückkommend auf die 80er Jahre – die Zeiten nicht leichter, die Gewerkschaften hatten sich in Folge des Umbruches der Wirtschaft neuen Herausforderungen zu stellen. Der zehnte Bundeskongress der Gewerkschaft im Jahr 1983 stand unter dem Motto: „Arbeit für alle – schwierige Zeiten gemeinsam meistern.“ Anton Benja sagte in seiner Begrüßungsansprache: „Ich hoffe, dass wir in einer Zeit, die wirtschaftlich bedeutend schwieriger als in den letzten zehn Jahren ist, das Erreichte halten können, wieder eine möglichst hohe Beschäftigung erreichen und – den wirtschaftlichen Bedingungen angepasst – Lohnerhöhungen für alle durchsetzen können.“
Die Parallelen, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu heute sind unverkennbar: In schlechten wirtschaftlichen Zeiten gehen die österreichischen Gewerkschaften – mit Sicherheit eine richtige, weil verantwortungsbewusste Strategie – in die Defensive, um das bestehende Niveau zu sichern. Dies allerdings in der klaren Erwartung, dass die Wirtschaft in Zeiten des Aufschwungs die Gewinne auch mit den Arbeitnehmern teilen werde. Und hier sehen wir doch einen dramatischen Wandel in neuester Zeit insofern, als von diesem – für den sozialen Frieden so wichtigen – Grundkonsens mehr und mehr abgegangen wird. Heutzutage lässt die neoliberale Betriebspolitik jegliche sozialpolitische Ausgewogenheit vermissen, schafft der wirtschaftliche Erfolg nicht eine signifikant höhere Beschäftigungsquote, sondern lässt vielmehr die Reallöhne sinken und die Armutsquote steigen.
In den 80er Jahren zeigte sich auch ein Phänomen, mit dem die europäischen Gewerkschaften bis heute zu kämpfen haben, nämlich einen Rückgang der Mitgliederzahlen. Dass die allgemeine Beteiligung an Massenorganisationen freilich nicht nur die Gewerkschaften trifft, sondern auch andere Institutionen wie die Parteien und die Kirchen, kann da nur ein schwacher Trost sein. Dazu kommt, dass die Organisationen veraltern. Es ist ein allgemeiner Rückzug der Jugendlichen aus dem öffentlichen Leben zu beobachten, woran auch peppige Flugblätter und Discoabende nicht viel ändern.In einer deutschen Studie heißt es wörtlich: „Gerade die jungen Mitglieder suchen keine Heimat, sondern sie wollen für ihren Mitgliedsbeitrag eine gute und klare Leistung haben. Und sonst nichts.“ Dazu kommt, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen als „Trittbrettfahrer“gewerkschaftliche Leistungen auch dann bekommen, wenn sie ihren angemessenen Beitrag nicht leisten, vor allem ist hier natürlich der Kollektivvertrag angesprochen.
Die schwierige Aufgabe der Gewerkschaft wird es sein (und sie ist wirklich nicht zu beneiden), vor allem in das Bewusstsein der Jugend dahingehend zu dringen, dass eine Gewerkschaft keine Gemischtwarenhandlung ist, in der Joghurt und Marmelade gegen Bares getauscht wird, sondern eine politische Interessenvertretung, deren Leistung eben nicht immer unermittelbar pekuniär gemessen werden kann.
Das unbestrittene Rückgrat der Mitgliederwerbung und –betreuung waren und sind aber neben den Funktionären und Mitarbeitern der Gewerkschaft selbst die Betriebsräte. Daher haben sektorale Verschiebungen, Betriebsgrößen und Verbreitungsgrade von Betriebsräten neben der Ausgestaltung der Betriebspolitik entscheidenden Einfluss auch auf die Mitgliederstruktur der Gewerkschaften. Mit anderen Worten: Dort wo wir starke, engagierte und gewerkschaftsbewusste Betriebsräte haben, haben wir auch einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad, ja die Betriebsräte werden gleichermaßen mit den Gewerkschaften identifiziert.
Seit Beginn der 90er Jahre haben Gewerkschaften einem neuen Problem entschieden entgegen zu treten, nämlich dass sich viele Arbeitnehmer das Leben nicht mehr leisten konnten, obwohl sie fleißig und hart arbeiteten. Für diese „Working poor“ forderte und fordert der ÖGB ein ordentliches Einkommen statt Almosen.
Wir haben noch heute in einzelnen Branchen Mindestlöhne um 1.000,00 Euro – in Einzelfällen sogar darunter. Es ist ein Skandal, dass sich oftmals gerade privilegierte Arbeitgeber wie Ärzte, Notare und Rechtsanwälte angemessenen Kollektivlöhnen weiterhin entziehen. Die Position des ÖGB ist völlig klar. Unabhängig von Fraktionszugehörigkeit wird – zuletzt von der GPA und den Frauen – ein Mindestentgelt von 1.700,00 Euro bei Vollzeit pro Monat gefordert.
Den Beitritt zur Europäischen Union 1995 sahen die österreichischen Gewerkschaften grundsätzlich positiv, sie wiesen aber nicht nur auf die demokratiepolitischen Defizite der Gemeinschaft hin, sondern forderten auch, dass sich die Union – heute aktueller den je – von einem reinen neoliberalen Wirtschaftskomplex hin zu einer sozialen Solidargemeinschaft entwickeln müsse, in denen die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung auch entsprechend berücksichtigt werden.
Und wenn Martin Schulz bei seiner Antrittsrede als neuer Präsident des Europäischen Parlaments gemeint hat, dass gerade die sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften dafür gesorgt haben, dass sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmer- Verbände auf Augenhöhe begegnen, darf man ihm historisch grundsätzlich Recht geben, auch wenn wir gerne noch ein paar Zentimeter wachsen dürfen.
Hand in Hand ging eine Internationalisierung der Gewerkschaftsbewegungen, an der die österreichischen Gewerkschaften mit großem Engagement teilnahmen. So wurde der internationale Gewerkschaftsbund, der das erste umfassende weltweite Gewerkschaftsnetz darstellt, im Jahre 2006 in Wien gegründet.
Die politische Wende des Jahres 2000 brachte eine weitere Verschärfung und tatsächlich eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer mit sich, und zwar in einem Ausmaß, das sich zuvor niemand hätte vorstellen wollen. Die Regierung fuhr ein Sparprogramm, das nicht von allen Bevölkerungsgruppen getragen war, sondern einseitig die Arbeitnehmer belastete. Die Schere zwischen den Einkommen der Unselbständigen und jenen aus Selbständigkeit, Vermögen und Kapitalanlagen öffnete sich sprunghaft.
Die österreichischen Gewerkschaften nahmen den Frontalangriff auf die Arbeitnehmerschaft – ich erinnere an die gravierenden Pensionsverschlechterungen, Unfallrentenbesteuerung, Ambulanzgebühren, Urlaubskürzung bei Ausscheiden etc. etc. - vieles auch vom Verfassungsgerichtshof wegen Nichteinhalten der elementaren Spielregeln wieder aufgehoben – nicht widerspruchslos hin. Aus der Sozialpartnerschaft auch unter Protest der Wirtschaftskammer abgedrängt, organisierten
die Gewerkschaften Demonstrationen, teilweise brachten sie bis zu 200.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Straße. In einer Urabstimmung, an der 800.000 Menschen teilnahmen, wurde der sozialen Kälte klar die rote Karte gezeigt.
Die politische Ausrichtung nach der neuerlichen Wende 2007 mag auf Grund der nicht immer überzeugenden Optik der Regierungsarbeit bewertet werden wie will. Eines ist aber klar: Die Sozialpartnerschaft und damit die Gewerkschaften haben ihren Wert als Verhandler und Willensbildungsorgane wieder zurückgewonnen. Und wenn von Blockade die Rede ist, die Sozialpartner trifft diese Kritik nicht, wie etwa ihre so konstruktiven Vorschläge in den Bad-Ischler- Papieren zeigen.
Die Bilanz der Arbeitnehmerinteressenvertreter kann sich durchaus sehen lassen. Die Regierungsprogramme seit 2007 – im Gegensatz zu den Programmen unter Schwarz-Blau – tragen die Handschrift der Sozialpartner und sehen keine wesentlichen Verschlechterungen in sozialpolitischen Positionen vor, ja im Gegenteil, in einzelnen Punkten – ohne in Euphorie auszubrechen – konnten durchaus Verbesserungen erwirkt werden:
Man denke an die endlich gelungene Gleichstellung der freien Dienstnehmer in der Sozialversicherung, an das Lohn- und Sozialdumping – Bekämpfungsgesetz, an die jüngsten Novellierungen des Arbeitskräfteüberlassungsgesetzes oder an die paktierte Gesundheitsreform, die einen Wurf für Jahrzehnte darstellt.
Das Arbeitsrechtspaket, das mit Jahreswende in Kraft trat, bringt mehr Transparenz für die unfairen „All-inklusiv- Verträge“, schließt für ca. 70 % der ArbeitnehmerInnen dieAufnahme enorm belastender Konkurrenzklauseln in den Arbeitsvertrag aus und reduziert den Ausbildungskosten- Rückersatz. Dass dafür die Höchstgrenze der Arbeitszeit bei aktiven Dienstreisen auf 12 Stunden ausgedehnt wurde, ist jedenfalls verkraftbar, weil einerseits die Belastung beim Lenken eines Fahrzeuges nicht so hoch ist und andererseits die Überstundenregelungen ja unverändert bleiben.
Und schließlich natürlich die Lohnsteuerreform, von den Gewerkschaften gemeinsam mit den Arbeiterkammern erkämpft, durchschnittlich € 1.000,00 pro Jahr mehr im Börserl, das kann sich schon sehen lassen!
Um zum Schluss zu kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen: „Wozu noch Gewerkschaften?“ fragt Oskar Negt, ein deutscher Soziologe in einer schon berühmt gewordenen Streitschrift zu den Arbeitnehmerinteressenvertretungen.
Die Antwort ist so schwierig nicht:
Gerade in diesem Sinne hat Thomas Klestil im Jahre 2003 die Gewerkschaftsbewegung als „das Gewissen einer modernen Wirtschafts- und Sozialpolitik“ gewürdigt und hinzugefügt: „Weil ein modernes Land, das seinen Gewerkschaften keinen Handlungsraum zubilligt, eines von beiden nicht ist: entweder nicht modern oder keine Demokratie.“ Standing-Ovations waren dem früheren Bundespräsidenten sicher.
Solange, liebe Kolleginnen und Kollegen, es eine freie Gesellschaft gibt, wird es freie Gewerkschaften geben. Und ich glaube als Kämmerer und überzeugter Gewerkschafter, dass wir auf allen Ebenen der Arbeitnehmerinteressenvertretung so schlecht nicht unterwegs sind.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.