Vortrag am 8.10.2015 in der evangelischen Pfarre Bruck/Mur
Am Ende des Ersten Weltkrieges, den man hauptsächlich mitverschuldet hatte, in den man trotz völlig unzulänglicher Vorbereitung mit enormer Euphorie gegangen war und bereits nach einigen Kriegsmonaten vor der Kapitulation gestanden war, sahen die Protestanten dieses Landes dem Zusammenbruch des Vielvölkerreiches Österreich-Ungarn - zuletzt eher eine Militärdiktatur als eine Monarchie – mit gemischten Gefühlen entgegen. Die knapp 650 Jahre lange Herrschaft der Habsburger hatte sie im Rahmen der Gegenreformation mit den brutalsten Mitteln unterdrückt, eine materielle und geistige Repression, die nicht nur den Protestanten schadete, sondern der Entwicklung des ganzen Landes.
Die Gegenreformation war mit ein Grund, dass Österreich keine wirkliche Aufklärung vollzogen hat, die Errungenschaften dieser wohl wichtigsten Epoche Europas wurden vielmehr nur teilweise und entsprechend angepasst oktroyiert.
Auf der anderen Seite hatte sich ab Ende des 18. Jahrunderts die Repression der Protestanten gelockert, das Toleranzpatent Josefs des II. von 1781 gestattete ihnen beschränkte Ausübung ihrer Religion, und Kaiser Franz Josef hatte schließlich 1861 den evangelischen Glauben staatlich anerkannt. Die Diskriminierung, insbesondere bei der Erlangung von Staatsämtern, blieb freilich aufrecht, das apostolische Herrscherhaus sah sich weiterhin als nahezu ausschließlicher Protektor des Katholizismus in Österreich.
Diese Verbindung von Thron und – katholischem – Altar führte nicht zuletzt zu einer gewissen Übereinstimmung zwischen liberalen Freigeistern und dem Protestantismus, die im Rahmen der sogenannten „Übertrittsbewegung“ die Mitgliedszahlen der evangelischen Kirchen – wenn auch bescheiden – stärkte. Man grenzte sich bewusst von den „Trans-Montanisten“ – also katholisch geprägten Politikern, die trans montes, d.h. über die Alpen, nach Rom schielten – ab, ein gesellschaftliches Phänomen, das auch unter der „Los-von-Rom-Bewegung“ bekannt ist.
Während des Aufstiegs der Nationalismen im 19. JH entwickelten vor allem Protestanten eine Sehnsucht nach einer Vereinigung mit dem sich etablierenden Deutschen Reich, das nicht zu Unrecht als das Mutterland des Protestantismus begriffen wurde. Wir sehen also hier bereits sehr früh eine Nahebeziehung zwischen Protestantismus und Deutschnationalismus, die später– und ich werde darauf noch dezidiert eingehen – in der Geschichte Österreichs eine fatale Rolle spielen sollte.
In diesem Lichte sahen viele Protestanten daher den revolutionären Umwälzungen am Ende des Jahres 1918 mit durchaus gespannter Erwartung entgegen, auch wenn vorerst das Chaos herrschte. Von den etwa gleich starken politischen Kräften in Österreich – den Sozialdemokraten, den Christlich-Sozialen und den Deutschnationalen – war nur die Sozialdemokratie wirklich auf die neuen Verhältnisse vorbereitet und konnte ein tragfähiges politisches Konzept vorweisen, das wie folgt lautete:
Vier von diesen fünf Punkten konnte die Sozialdemokratie in beeindruckender Art und Weise in einer Koalition mit den Christlich-Sozialen durchsetzen. Insbesondere die 1920 beschlossene Verfassung – ein von Hans Kelsen geprägtes Juwel der Aufklärung und der Moderne – trägt ganz klar die sozialdemokratische Handschrift. Besonders der Gleichheitssatz des Artikels 7 hätte wohl gerade von den Protestanten mit Freude aufgenommen werden können. Demnach sind vor dem Gesetz alle Staatsbürger gleich.
Vorrechte – insbesondere auch des Bekenntnisses – werden ausgeschlossen.
Hervorzuheben auch die Sozialgesetze bis 1920 unter Ferdinand Hanusch, Bollwerke des Sozialstaates, die zu einem Gutteil heute noch in Geltung sind: 8-Stunden-Tag, Arbeitslosenversicherung, gesetzlicher Urlaub, Verbot der Kinderarbeit, das Betriebsrätegesetz mit der so wichtigen Außenseiterwirkung der Kollektivverträge, ein umfassender Mieterschutz und vieles mehr.
Nicht durchgesetzt aber konnte aufgrund des Widerstands der Alliierten der Anschluss an das Deutsche Reich, den alle maßgeblichen politischen Kräfte wollten, was vor allem auch die deutschnational gesinnten Protestanten enttäuschte.
Obwohl die Sozialdemokratie der Republik Österreich als maßgebliche Kraft jene demokratie – und sozialpolitischen Grundlagen verschafft hatte, die bis heute nahezu unverändert sind und Grundfesten unseres aktuellen Staatswesens bilden, wurde sie bei den ersten ordentlichen Wahlen 1920 abgewählt. Nicht nur die Wählerinnen – Österreich hatte als eines der ersten Länder das Frauenwahlrecht durchgesetzt – und Wähler gingen offensichtlich auf Distanz zum modernistischen sozialdemokratischen Programm, vor allem auch die Protestanten und insbesondere deren Eliten entwickelten große Vorbehalte gegenüber dieser politischen Bewegung.
Peter Barton, ein Historiker, der sich im besonderen Maße um die Geschichte der evangelischen Kirche in Österreich bemüht hat, führt diese Kluft vor allem auf die ideologische Ausrichtung der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, den sogenannten „Austromarxismus“, zurück. Der „Austromarxismus“, vom führenden Ideologen der Partei,Otto Bauer, entwickelt, verfolgte das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der die großen Produktionsunternehmen und die Banken vergesellschaftet, das heißt verstaatlicht sein sollten. Allerdings sollte dieses Ziel ausschließlich mit demokratischen Mitteln – also über entsprechende Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten – erreicht werden.
Mag sein, dass ein solches Programm dem berühmten Wirtschaftsethos des Protestantismus widersprach, der seine ökonomischen Vorstellungen vor allem auf Eigeninitiative, individuelle Leistungsbereitschaft und in der Folge die Unantastbarkeit des Privatbesitzes baute.
Darüber hinaus galt die Sozialdemokratie als „verjudet“, waren doch wesentliche Proponenten der Bewegung – so etwa Viktor Adler, der Parteigründer, und der schon erwähnte Otto Bauer als Chefideologe - Juden. Diese Ablehnung entsprach einer allgemeinen antisemitischen Grundhaltung in allen gesellschaftlichen Bewegungen, paradoxer Weise auch in der Sozialdemokratie selbst. Der Antisemitismus war aber im – wie wir noch hören werden –deutschnational orientierten Protestantismus besonders stark ausgeprägt.
Auch inhaltlich gab es erhebliche Differenzen. Die Sozialdemokratie strebte im Sinne einer Säkularität die strikte Trennung zwischen Staat und Religion an. So schaffte der erste Unterrichtsminister der Ersten Republik, Otto Glöckel, in einem Erlass die Verpflichtung zu religiösen Übungen wie Schulgebete und die Teilnahme am Religionsunterricht für Schüler und Lehrer ab. Diese Vorgangsweise – nach heutigen Maßstäben selbstverständlich – widersprach nicht nur den Interessen der Katholiken, sondern auch den Vorstellungen der evangelischen Kirche.
Dabei hätten die Protestanten von der Umsetzung des Säkularitätsprinzips in Österreich nur profitieren können – schließlich strebte die übermächtige Konkurrenzreligion eine völlige Identität zwischen Katholizismus und Staat an. Nichts desto trotz sah man in der Sozialdemokratie eine gefährliche „gottlose“ politische Ideologie und versagte ihr die Unterstützung.
Aber es hätte auch durchaus Überschneidungen in den gesellschaftspolitischen Vorstellungen zwischen Sozialdemokratie und Protestantismus gegeben, zumal im Vergleich zum Katholizismus – ähnlich wie heute – die evangelische Kirche wesentlich fortschrittlichere Grundpositionen einnahm. So war bereits in der Monarchie eine Wiederverheiratung katholisch getrauter Partner nicht möglich, auch wenn sie später konfessionslos wurden oder zu einer anderen Religionsgemeinschaft – etwa der protestantischen – übertraten. Es gab nur die Trennung von Tisch und Bett, das Eheband blieb aufrecht.
Der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich 1919/1920 – das damals noch Wien umfasste –, der Gewerkschafter Albert Sever, wehrte sich gegen diese „Retro-Politik“– sprach den Dispens auch vom Ehebande katholischer Scheidungswilliger aus, und stellte sie damit den Protestanten gleich.
Die fortschrittlichere Ehe- und Familienpolitik der evangelischen Kirche, die auf staatlicher Ebene eben von den Sozialdemokraten forciert wurde, erhöhte im Übrigen die Attraktivität dieser Glaubensgemeinschaft. Vielfach war dies der Grund für Kirchenübertritte in der Ersten Republik.
Aber es überwogen – wie gesagt – die Vorbehalte der Protestanten gegenüber der progressiven Sozialdemokratie, was allerdings zur Folge hatte, dass auch die Sozialdemokratische Partei dem Anliegen der Evangelischen mit äußerstem Desinteresse gegenüberstand. Die Protestanten waren eben schon allein aufgrund ihrer geringen numerischen Größe - aber auch wegen ihrer genannten Vorbehalte - ein Wählerpotential, das es nicht anzusprechen lohnte.
War die Haltung der Protestanten zu den Sozialdemokraten doch recht eindeutig – nämlich ablehnend -, gestaltete sich das Verhältnis zur christlich-sozialen Partei ambivalenter. Zum einen erweckte das Programm der Partei, den christlichen Glauben in den Mittelpunkt der Politik zu rücken - also die Fortführung monarchistischer Verbundenheit zwischen Thron und Altar - durchaus Zustimmung.
Auf der anderen Seite aber verfolgten die Christlich-Sozialen unverhohlen das Ziel, den Katholizismus als einzigen rechten und legitimen Glauben zu forcieren. Der politische Katholizismus – den Exponenten wie der langjährige Bundeskanzler Ignaz Seipel, der Prälat ohne Milde, wie er von der Arbeiterbewegung genannt wurde, vorantrieb – sah eben für die evangelische Kirche wenig Spielraum vor. Es musste die Protestanten im Übrigen wohl besonders betroffen machen, dass die Christlich-Sozialen die evangelische Kirche in ihrer – verlogenen, weil die Tatsachen völlig verkehrenden – Propaganda verunglimpfte und ganz offensichtlich zu ihren Gegnern zählte. Das Feindbild, das hier künstlich aufgebaut wurde lautete: „Protestantismus – Freimaurerei – Sozialismus“.
In diesem Lichte setzten die meisten protestantischen Bürgerinnen und Bürger auf zwei verbleibende Optionen. Die einen gingen in die „innere politische Emigration“ – das heißt, sie hielten sich selbst für apolitisch und interessierten sich nicht weiters um den – von unterschiedlichen Positionen getragenen - Interessenstreit der Parteien um die zukünftige Entwicklung des Landes. Eine Einstellung, die bis heute recht gefährlich ist, denn das Bonmot, wonach sich für jene, die sich nicht für Politik interessieren, irgendwann einmal die Politik - und zwar im negativen Sinne – interessieren wird, hat noch immer Gültigkeit.
Die anderen wandten sich der dritten verbliebenen politischen Kraft zu, nämlich den Deutschnationalen – vor allem vertreten durch die „Großdeutschen“ und den „Landbund“. Mit Sehnsucht – ja vielfach wohl auch mit etwas Neid – sah man nach Deutschland, dem „Mutterland der Reformation“, wo die evangelische Kirche schon aufgrund ihrer zahlenmäßigen Größe durchaus ein politischer Faktor war. Naturgemäß war der Gedanke eines Anschlusses Österreichs an Deutschland - wie schon angeklungen - gerade unter den österreichischen Protestanten besonders ausgeprägt, was sich auch darin zeigte, dass bereits 1925 die evangelische Kirche in Österreich als assoziiertes Mitglied in die „Deutsche Evangelische Kirche“ eintrat.
In der deutschen Weimarer Republik wiederum waren die Protestanten ebenfalls stark deutschnational ausgerichtet, mit wenigen Ausnahmen bei den linken und gesellschaftsliberalen Evangelischen fand auch die Rassenideologie des Nationalsozialismus und der damit verbundene und immer schärfer zu Tage tretende Antisemitismus bemerkenswerten Anklang. Letzterer war nur die „modernere“ – und in ihren Konsequenzen, wenn wir an die spätere Rassengesetzte und den Holocaust denken, um ein Vielfaches brutalere – Version eines Anti-Judaismus, der bereits bei Martin Luther seine Wurzeln findet.
Die Schrift des Reformators „Wider die Jüden und ihre Lügen“, von der sich die evangelische Kirche mittlerweile distanziert hat, ist ebenso erinnerlich wie sein Pamphlet„Wider die mordischen und reubischen Rotten der Bawren“, in dem er in den Bauernkriegen in aller Deutlichkeit für die unterdrückende Obrigkeit und gegen die hungernden Bauern Position bezog.
Die Verbindung Antisemitismus-Nationalismus- Protestantismus bringt Kurt Gerstein auf den Punkt: „Mit dem Autoritätskult und dem überspitzen Nationalismus sehr vieler deutscher protestantischer Geistlicher verband sich ein mehr und weniger offener Antisemitismus, der die Geister ebenfalls empfänglich für den Nationalsozialismus machte: Eine gewisse Art, die Bibel auszulegen, lag ihm zweifellos zugrunde. Besonders auffällig ist, dass der Antisemitismus offenbar auf dem Boden der stärksten protestantischen Rechtsgläubigkeit besonders gut wuchs.“
Und gerade der Nationalismus der deutschen Protestanten zur Zeit der Weimarer Republik sowie verschiedene Aspekte der lutherischen Lehre, die in dieser Epoche besonders hervorgehoben wurden, bildeten die geistige Grundlage für enorme Emotion. Gewiss befanden sich nicht alle deutsche Protestanten in dem gleichen Geisteszustand wie ein Pastor namens Andersen, der ausrief: „Wer vom Juden ißt, der stirbt daran!“
Aber nur wenige Protestanten distanzierten sich etwa von den Formulierungen eines Rundschreibens, das der Generalsuperintendent der Kurmark, Otto Dibelius am 3. April 1928 an die Pastoren seines Sprengels versandte. Dort heißt es wörtlich: „Trotz der Geschmacklosigkeit, die dieser Ausdruck enthält, habe ich mich stets als Antisemit gefühlt. Man kann nicht leugnen, dass in allen Zersetzungserscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum stets eine führende Rolle spielt.“
Schließlich wurde die seelische Empfänglichkeit des deutschen Protestantismus für den Nationalsozialismus noch durch seine strukturelle Schwäche verstärkt. Die Protestanten in Deutschland besaßen nichts von einer monolithischen Organisation: Sie waren 40 Millionen, von denen etwa 150.000 den „Freikirchen“ – Baptisten, Methodisten usw. - angehörten. Der Rest teilte sich auf 28 Kirchen auf, von denen einige lutherisch, andere calvinistisch waren.
Diese Spaltung und die ständigen inneren Querelen, die sich im deutschen Protestantismus abspielten, machten ihn zu einer umso leichteren Beute der nationalsozialistischen Propaganda: Ohne eine führende zentrale Autorität war der deutsche Protestant sehr viel verwundbarer als der Katholik im Reich. Es kann unter diesen Umständen nicht Wunder nehmen, dass zahlreiche evangelische Geistliche die Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten im Jänner 1933 mit Freude begrüßten.
Dass die österreichischen Protestanten bereits bei Bestehen der demokratischen Ersten Republik überproportional dem Deutschnationalismus zuliefen, zeigt sich nicht zuletzt dadurch, dass die deutschnationalen Parteien in Regionen ausgesprochen stark vertreten waren, in denen die Gegenreformation besonders brutal und der Geheimprotestantismus besonders stark waren. Das obere Ennstal ist dafür ebenso ein gutes Beispiel wie etwa Kärnten, in dem die Christdemokraten bis heute beachtliche Probleme haben, ihr österreichweit starkes Potential in entsprechende Wahlergebnisse umzusetzen.
Die deutschnationale Ausrichtung der protestantischen Eliten machte die evangelische Kirche im Übrigen auch attraktiv für katholische Deutschnationale. Von 1920 bis 1930 verzeichnete die Evangelische Kirche 51.000 Eintritte und wuchs damit um 20 %.
Unterdessen triftete die Erste Republik Österreich, die mit so viel Hoffnungen als demokratischer Staat gegründet worden war, nach und nach in autoritäre Verhältnisse. Bereits nach der ersten regulären Wahl 1920 verlor die Sozialdemokratie die relative Mehrheit und ging in Opposition. Von diesem Zeitpunkt bis zur Ausschaltung der Demokratie 1933 sollte der sogenannte Bürgerblock regieren, also eine Koalition zwischen Christlich-Sozialen und Deutschnationalen.
Ebenfalls 1920 wurden die ersten Heimwehren gegründet, paramilitärische Verbände der Konservativen und der Deutschnationalen, die von Anbeginn dem demokratischen Rechtsstaat ablehnend gegenüberstanden. Als Reaktion darauf etablierten die Sozialdemokraten den Republikanischen Schutzbund, der die Aufgabe hatte, die Errungenschaften der Revolution von 1918 – Demokratie und Republik – zu schützen. Die beiden Verbände rangen um die Beherrschung der Straße, es kam immer wieder zu Zusammenstößen mit Toten und Verletzten. Das Unterlaufen des staatlichen Waffenmonopols destabilisierte den jungen Staat zusätzlich.
1927 demonstrierten Arbeiter spontan gegen das Urteil eines Wiener Geschworenengerichtes, das Mitlieder der Heimwehr, die einen Buben und einen Invaliden ermordet hatten, freigesprochen hatte. Dabei wurde der Justizpalast an der Ringstraße angezündet, der christlich-soziale Kanzler Ignaz Seipel und der deutschnationale Innenminister Karl Hartleb ließen in die Menge schießen mit dem Ergebnis von 90 Toten und 1000 Verletzten.
Die Sozialdemokratie stand hilflos abseits, sie hatte sich weder an die Spitze der Demonstration gestellt noch war sie in der Lage, die Ausschreitungen zu verhindern. Die Gegner erkannten ihre politische Schwäche, die Weichen in Richtung Diktatur wurden gelegt. 1930 verabschiedeten sich die Heimwehren im sogenannten „Korneuburger Eid“ endgültig von der Formaldemokratie, und 1932, als die christlich-soziale Partei nach einer veritablen Wahlschlappe 1930 um ihren Einfluss bangen musste, begann Dollfuß scheibchenweise die Demokratie und den Rechtsstaat zu demontieren.
1933 schaltete er den Nationalrat und den Verfassungsgerichtshof aus, verhängte über die Medien die Zensur, verbot den Republikanischen Schutzbund, vorerst aber nicht die Heimwehren, und führte – freilich mit Hintergedanken – die Todesstrafe wieder ein. Die Sozialdemokratie wich zurück, verlegte sich aufs Verhandeln, und als der Aufstand im Februar 1934 gegen die Diktatoren losbrach, war es längst zu spät: Die Demokraten waren bereits nach einigen Tagen geschlagen, die Sozialdemokratische Partei wurde aufgelöst und mit der Verfassung vom 1. Mai 1934 – eine besondere Provokation für die besiegten Arbeiter – wurde die austrofaschistische Diktatur endgültig etabliert.
Dies bedeutete aber nicht nur die Ausschaltung der linken Kräfte, sondern auch eine Paralysierung des politischen Deutschnationalismus in Österreich, der mit dem – wie schon erwähnt – österreichischen Protestantismus überwiegend sympathisierte. Im Juli 1934 putschten die österreichischen Nationalsozialisten – auf persönliche Anordnung Adolf Hitlers, der im Jänner 1933 im Deutschen Reich an die Macht gelangt war – gegen die österreichische Diktatur. Engelbert Dollfuß kam dabei ums Leben.
Hatte es – soweit von mir überschaubar – gegen die Etablierung der Diktatur seitens der evangelischen Eliten keinerlei Protest gegeben und hatten Protestanten auch in keinerlei Weise den Aufstand der Demokraten im Februar unterstützt, fällt besonders auf, dass der nationalsozialistische Putsch in den protestantischen Hochburgen – wieder ist das obere Ennstal zu erwähnen – besonders stark war. Es ist daher davon auszugehen, dass der nationalsozialistische Umsturzversuch zur Erlangung des Anschlusses an das Dritte Reich von den österreichischen Protestanten im besonderen Maße begrüßt wurde.
Die österreichische Diktatur verstand sich – trotz entgegengesetzter offizieller Erklärung – als Triumph des politischen Katholizismus. Es verwundert daher nicht, dass im Unterschied zur katholischen Kirche das Verhältnis zwischen Regierung und der Vaterländischen Front – der Einheitspartei der Diktatur einerseits – und den Protestanten andererseits von gegenseitigem Misstrauen und die Situation der evangelischen Kirche von faktischer Ungleichstellung geprägt war.
Das Misstrauen seitens der Regierung und der Vaterländischen Front gründete auf dem – wohl sehr begründeten – Verdacht, dass evangelische Pfarrer mit dem Nationalsozialismus sympathisierten bzw. Einrichtungen der evangelischen Kirche als nationalsozialistische Plattformen dienten. Wiederholt gab es diesbezüglich Anzeigen.
Die Vaterländische Front warf dem evangelischen Oberkirchenrat unter anderem vor, dass „in letzter Zeit die evangelischen Gottesdienste mehr oder weniger den Charakter von nationalsozialistischen Propaganda- Versammlungen angenommen haben sollen“. Im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Juliputsch 1934 erreichte die Polarisierung zwischen evangelischer Kirche und dem austrofaschistischen Staat, der mit Kurt Schuschnigg an der Spitze weitergeführt wurde, ihren Höhepunkt: Ihre Pfarrer wurden verhaftet, Hausarreste, Berufsverbote und Haft- und Geldstrafen wurden verhängt.
Aus Protest gegen den katholischen Vertikalfaschismus traten viele – insbesondere deutschnational gesinnte Menschen – aus der katholischen Kirche aus und brachten der evangelischen Kirche einen beträchtlichen Zustrom. Um diesen Entwicklungen entgegenzusteuern, hatte die Dollfuß- Regierung bereits im August 1933 eine – demokratisch selbstverständlich nicht legitimierte – Verordnung erlassen, die Aus- und Übertrittserklärungen erheblich erschwerten.
Die Bestrebungen der evangelischen Kirche, eine tragfähige Vereinbarung mit der Diktatur zu erreichen, die die faktische Ungleichbehandlung der Religionsgemeinschaften abgemildert hätte, liefen ins Leere. Dennoch rief der evangelische Oberkirchenrat am 11. März 1938 – also einen Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen – die evangelische Bevölkerung auf, bei der von Schuschnigg angekündigten Volksabstimmung mit „Ja“ – also für das austrofaschistische Österreich – zu stimmen, das gegenüber der unfassbaren Brutalität des totalitären Nationalsozialismus mit Sicherheit das geringere Übel war.
Dagegen erhob sich allerdings sofort der Protest der „Evangelischen Akademikerschaft – einer Organisation der mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Deutschen Christen“ –, die den Rücktritt der Kirchenleitung forderte. Dieser erfolgte bereits am nächsten Tag.
Der Präsident des evangelischen Oberkirchenrats Augsburger und Helvetischen Bekenntnisses wurde der Jurist Robert Kauer, ein Nationalsozialist der ersten Stunde. Er sollte bis zum 15. April 1939 amtieren. Mit seiner Person ist untrennbar die kirchenpolitisch wohl dramatischste Phase des österreichischen Protestantismus im 20 Jahrhundert verbunden.
Robert Kauer, der geradezu exemplarisch für die Entwicklung der evangelischen Elite in Österreich nach 1918 stehen kann, wurde 1901 in Wien–Wieden geboren und katholisch getauft. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien, 1924 oder 1925 erfolgte der Eintritt in die Großdeutsche Volkspartei. Bereits 1931 trat er in die nationalsozialistische Zelle beim Landesgericht Wien und damit in die NSDAP ein. 1933 trat er aus der römisch- katholischen Kirche aus und in die evangelische Kirche A.B. ein. Sinngemäß meinte er, dass ein wahrer deutscher Mann nur Protestant sein könne.
Robert Kauer wurde auch unverzüglich Mitglied des evangelischen Bundes, der zur „Wahrung deutsch- protestantischer Interessen“ 1886 gegründet worden war und 1903 in Wien eine Filiale in Form des „Deutsch- Evangelischen Bundes für die Ostmarkt“ etabliert hatte.
In der österreichischen Diktatur war er als illegaler Nationalsozialist vorerst verfolgt und wurde auch zeitweise inhaftiert. Sehr früh kümmerte er sich um die juristischen Belange der evangelischen Kirche und stieg in höhere Funktionen auf. In der so prekären Zeit des Umbruches vom Austrofaschismus in den Nationalsozialismus stand er an der Spitze der Kirche. Im sogenannten „Kirchenkampf“ im nationalsozialistischen Deutschland 1933 bis 1945 schlug er sich auf die Seite der „Deutschen Christen“, die die nationalsozialistische Ideologie bedingungslos unterstützten.
Ihre innerkirchlichen Gegner waren die „Bekennenden Kirchen“. Diese kritisierten Teilaspekte der Ideologie, waren aber keineswegs eine Widerstandsbewegung, sondern unterstützten ebenfalls das Regime in den Grundzügen. So hielt Walter Künneth, „Sektenbeauftragter“ und Vertreter der „Bekennenden Kirchen“ 1933 fest: „Die Kirche hat sich dafür einzusetzen, dass die Ausschaltung der Juden als Fremdkörper im Volksleben sich nicht in einer dem christlichen Ethos widersprechender Weise vollzieht.
Kauer verfolgte – wie sein Biograph Harald Uhl ausführt – eine „konsequent deutsch-christliche Politik“ ohne Rücksichtnahme auf die synodal-presbyterialen Grundlagen und Entscheidungsstrukturen der evangelischen Kirche. Vorerst wurde mit den Katholiken, die tragendes Element des Austrofaschismus gewesen waren, abgerechnet. Am 20. Oktober 1938 veröffentlichte der Oberkirchenrat unter seinem Präsidenten ein Schreiben an alle Superintendenturen, Senioratsämter, Pfarrämter, Filialgemeinden und Predigtstationen. Darin heißt es: „In den letzten Tagen fanden klägliche Versuche des politischen Katholizismus statt, sich erneut zur Geltung zu bringen. Die nationalsozialistische Bevölkerung unseres Landes – die noch nicht vergessen hat, wie die Katholische Kirche für das volksverräterische Regime Dollfuß-Schuschnigg wiederholt... eingetreten ist – hat diesen Versuchen das verdiente Schicksal bereitet.“
Und weiter: „Als evangelisch-christliche Kirche im deutschen Volk müssen wir mit Entrüstung die unbelehrbare Haltung des politischen Katholizismus, wie sie in den letzten Tagen aufgeschienen ist, als völlig im Widerspruch mit dem Wesen des wahren Christentums bezeichnen. Hier liegt ein Missbrauch des Christentums zu politischen und deutschfeindlichen, die Einheit unseres Volkes behinderten Zwecke vor...
Biograf Harald Uhl – im Übrigen ein hoher Funktionär der evangelisch–lutherischen Kirche in Deutschland – bringt die frühen und engen Verflechtungen der evangelischen Kirche in Österreich mit dem Nationalsozialismus auf den Punkt: „Es fällt angesichts der Ereignisse und der Veröffentlichungen um die Jahreswende 1937/38 auch im zeitlichen Abstand von mehreren Jahrzehnten schwer, der am Ende des Ständestaates – also des Austrofaschismus – in dieser Phase aufgekommenen... Bezeichnung der evangelischen Kirche in Österreich als „Nazi Kirche“ mit Überzeugung entgegen zu treten.“
Kauers nationalsozialistisch gesinntes Engagement gipfelte in seiner – ohne jede Rücksprache erfolgten – Unterzeichnung der sogenannten „Godesberger Erklärung“ am 4. April 1939, einer deutsch-christlichen Verständigungsformel, die den Nationalsozialismus als „Fortführung und Vollendung der Reformation Luthers... in weltanschaulicher und politischer Hinsicht“ definierte.
In der Fassung vom Mai 1939 war diese Godesberger Erklärung im Übrigen noch drastischer formuliert. Dort hieß es: „Die nationalsozialistische Weltanschauung bekämpft mit aller Unerbittlichkeit den politischen und geistigen Einfluss der jüdischen Rasse auf unser völkisches Leben. Im Gehorsam gegen die göttliche Schöpfungsordnung bejaht die evangelische Kirche die Verantwortung für die Reinerhaltung unseres Volkstums. Darüber hinaus gibt es im Bereich des Glaubens keinen schärferen Gegensatz als den zwischen der Botschaft Jesu Christi und der jüdischen Religion der Gesetzlichkeit und der politischen Messiashoffnung.“
Nach dem Bekanntwerden dieses Schrittes regte sich allerdings beachtlicher Widerstand in der evangelischen Gemeinde und die Ambitionen der deutsch-christlichen Gruppen in Österreich gerieten in die Defensive. Robert Kauer wurde durch das Reichsjustizministerium in das sogenannte „Altreich“ versetzt, um seine Kirchenpräsidentschaft zu beenden.
Der Protest und die Absetzung Kauers können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Ergebnis der Anschluss an das Deutsche Reich von den meisten Protestanten mit großer Hoffnung, großer Erwartung und wohl auch allergrößter Überzeugung begrüßt wurde.
Worauf man sich hier eingelassen hatte, erkannte man – trotz zureichender Informationen vor dem „Anschluss“ – nicht oder zu spät. Es ist geradezu müßig, skizzenhaft einige Konsequenzen dieser menschenverachtenden Ideologie des politischen Irrsinns festzuhalten:
Weitere Bewertungen dieses in der Weltgeschichte singulären Unrechtsregimes oder gar Details können wir uns hier ersparen.
In die Gräuel waren Österreicher überproportional führend eingebunden. Es fällt allerdings auf, dass trotz der offensichtlich hohen Affinität der Protestanten zum Nationalsozialismus nach dem derzeitigen – noch nicht ausreichend fundierten – Forschungsstand überraschend wenige Haupttäter aus dem evangelischen Milieu stammten, sondern in der Regel eine katholische oder konfessionslose Sozialisation erfahren hatten.
Die evangelische Kirche musste eine erhebliche Einschränkung ihrer Organisation und ihrer Tätigkeiten hinnehmen. Der nationalsozialistische Staat beschränkte den Oberkirchenrat und unterwarf ihn einer verschärften Aufsicht. Das kirchliche Vereinswesen wurde zerschlagen, der – evangelische wie katholische – Religionsunterricht abgeschafft und der Großteil der Einrichtung der Diakonie beschlagnahmt.
Spätestens als der anfängliche Kriegserfolg ausblieb, dämmerte es auch so manchem Protestanten, was man hier so freudig unterstützt hatte. Dennoch war der Widerstand gegenüber dem Nationalsozialismus im protestantischen Milieu – verglichen etwa mit dem katholischen oder gar den Zeugen Jehovas – relativ gering. Als wenige Beispiele können genannt werden der lutherische Theologe und profilierte Vertreter der „Bekennenden Kirche“ Dietrich Bonhöffer, den man kurz vor Kriegsende im April 1945 im KZ Flossenbürg hinrichtete.
Oder – in der Steiermark – der evangelische Pfarrer von Voitsberg, Erwin Kock, der sich weigerte, die Hakenkreuzfahne am Pfarrhaus anzubringen und demonstrativ in der „Anschluss-Volksabstimmung“ mit „Nein“ gestimmt hatte. In Predigten und Rundschreiben an die Gemeindemitglieder machte er klar, dass man „keinem falschen Führer“ folgen solle. Von Gemeindemitgliedern denunziert wird er verhaftet und 1940 zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt.
Die evangelische Kirche lässt ihn sofort fallen, der Oberkirchenrat entlässt ihn aus dem kirchlichen Dienst. Kock überlebt als Übersetzer, der die für die französischen Kriegsgefangenen nachteiligen Mitteilungen einfach verschwinden lässt. Im April 1945 desertiert er schließlich und wird nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches widerwillig wieder in den kirchlichen Dienst aufgenommen. Dass er sich für die Aufarbeitung der Geschichte einsetzt, bringt ihn wiederum in Konflikt zu den evangelischen Eliten.
Der evangelische Pfarrer Hans Rieger wiederum hat, als Gefangenen-Seelsorger im „Grauen Haus“ – dem Wiener Landesgericht – zahlreiche Menschen, die das Regime wegen tatsächlichen oder vorgeblichen Widerstands hinrichten ließ, auf ihrem schweren letzten Gang begleitet. Seine erschütternden Erfahrungen hat er in seinem – zweimal aufgelegten – Buch „Das Urteil wird jetzt vollstreckt“ festgehalten.
Nach 1945, als eine völlige Neuausrichtung der Republik zu Demokratie und Konsens vorgenommen worden war, tat sich die evangelische Gemeinde – wie viele andere Gesellschaftsgruppen und Institutionen auch – sehr schwer, die eigenen Verstrickungen in der nationalsozialistischen Ideologie und deren Verbrechen einzugestehen und aufzuarbeiten. Gustav Entz, Professor für praktische evangelische Theologie an der Universität Wien – bemerkenswerter Weise von 1938 bis 1945 und selbst in den Nationalsozialismus verstrickt – rechtfertigte das Engagement vieler Protestanten für das Hitlerregime wie folgt:
„... ein Nationalsozialismus, wie wir ihn verstanden und wie wir ihn gestaltet sehen wollten.... ist... mit ernster konservativer christlicher und kirchlicher Gesinnung sehr wohl vereinbar. Die beiden konstitutiven Elemente dieses Nationalsozialismus waren das deutsche, und zwar das gesamtdeutsche Nationalbewusstsein und der sehr ernst gemeinte soziale Gedanke. Mit Hass gegen andere Nationen, mit Verachtung anderer Rassen und mit irgendwelchen maßlosen sozialrevolutionären Tendenzen hatte dieser so verstandene Nationalsozialismus nicht das Geringste zu tun.“
Und weiter: ... Wir haben dann freilich einen ganz anderen Nationalsozialismus erleben müssen! Dass Hitler dem nicht zu wehren wusste, dass er dem Einbruch der bösesten Instinkte, dem Einbruch der tollsten nationalen Selbstüberhebung, der tollsten Volks- und Rassenvergötzung und damit dem Einbruch eines brutalen Antichristentums, der Verleugnung jeder Rechtsidee und den Orgien des Hasses und einer zügellosen Rachsucht Raum gab, war das Unglück seiner Bewegung und der Untergang seines Werkes.“
Scheinheiliger, meine Damen und Herren – um nicht zu sagen verantwortungsloser den zukünftigen Generationen gegenüber, die eine Demokratie wieder aufzubauen hatten – kann man seine eigene Unterstützung für eine Mörder- Ideologie wohl nicht rechtfertigen. Selbstverständlich musste dem intellektuellen Entz von Anbeginn – und spätestens nach dem Erscheinen des Buches „Mein Kampf“ – bekannt sein, was Hitler und seine Mörderbande im Schilde führten. Und erst recht ab dem Jahr 1938, als er – mit Wohlwollen des Regimes – einen Lehrstuhl für evangelische Theologie innehatte.
Das staatliche Verbotsgesetz vom 8. Mail 1945 untersagte allen ehemaligen Mitgliedern der NSDAP die Übernahme von Ehrenämtern in öffentlich-rechtlichen Körperschaften, zu denen auch die Presbyterien der evangelischen Kirche zählten. In einem Rundschreiben vom 26. Mai 1946 muss Bischof Gerhard May darauf hinweisen, dass es „tatsächlich Gemeinden gibt, in denen nahezu keine Männer vorhanden sind, welche die kirchliche Qualifikation... zum Amt aufweisen und nicht Nazis waren“.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten erlebte die evangelische Kirche Österreichs durch den Zuzug protestantischer Flüchtlinge aus den früheren Ostgebieten des deutschen Reiches - wie Ostpreußen, Pommern oder Schlesien und aus der Tschechoslowakei (mein Schwiegervater, der heute hier ist, war ja auch ein solches Flüchtlingskind) - ein neues Wachstum, das sich in Gemeindegründungen und Kirchenbauten manifestierte.
Aus dieser Zeit stammt offenbar auch eine Tafel in ihrer Kirche, die ich mir zu fotografieren erlaubt habe. Dort heißt es über einem Psalm und neben einem stilisierten deutschen Kreuz: „Denen, die ihrer Heimat dienten bis in den Tod.“
Gemeint sind ganz offensichtlich – so wie auf den Heldendenmälern neben den katholischen Kirchen - jene sogenannten „Helden“, die im – bereits angesprochenen – Angriffskrieg der Nationalsozialisten angeblich ihre Heimat verteidigt haben. Es ist bei Ihnen in diesem Rahmen wohl gar nicht nötig, festzuhalten, dass es solche „Helden“ nicht gegeben hat. Es hat vielmehr Menschen gegeben, die man – gezwungen oder freiwillig – in eine Wehrmachtsuniform gesteckt hat, um gegen ihre Heimat – nämlich Österreich – zu kämpfen.
Auf Seite Österreichs standen vielmehr die Alliierten und der österreichische Widerstand.
Nun bin ich nicht ein solcher Historiker, der dann gleich vorschlägt, dass man eine solche Tafel wegschremmen sollte, aber ich erlaube mir - wenn Sie mich schon eingeladen haben, hier einen Vortrag zu halten -, anzuregen, eine entsprechende aufklärende Zusatztafel anzubringen.
Als Vorbild könnte die evangelische Heilandskirche in Graz dienen, wo über der Kriegerdenkmaltafel eine Glastafel angebracht wurde, die den ursprünglichen Text relativiert. Auf eine solche Glasüberblendung könnte man etwa in Ihrer Kirche – wenn Sie mir den Vorschlag erlauben – schreiben: „Wir haben aus der Geschichte gelernt.“
Nicht zuletzt durch den genannten Zuzug erreichte die evangelische Kirche 1968 ihren Mitgliederhöchststand, nämlich 425.000. Nach aktuellem Stand – also nach der Erhebung der Statistik Austria im Jahr 2001 - sind es 376.000 oder 4,7 % der Gesamtbevölkerung. Dabei fällt auf, dass der Ausländeranteil – so wie zur Zeit der Flüchtlinge aus den Ostgebieten – mit 8,6 % sehr hoch ist. Im Vergleich dazu hat die katholische Kirche nur einen Prozentsatz von 2,7.
Mehrere Autoren, auf die ich im Zusammenhang mit der Recherche zu diesem Vortrag gestoßen bin, halten fest, dass in der Nachkriegszeit Ihr gesamtkirchliches Bewusstsein gewachsen ist und nochmals durch das Engagement für den Welt-Protestantismus verstärkt wurde. Durch das Protestantengesetz 1961 erfuhr die evangelische Gemeinde endlich eine zeitgemäße rechtliche Absicherung und die völlige Gleichstellung mit der katholischen Kirche.
Und wohin orientierten sich die Protestanten nach 1945 politisch? Heimo Halbrainer, mein Historikerkollege, hat in einer Studie zur evangelischen Kirche im Raum Radkersburg nachgewiesen, dass die Protestanten ganz offensichtlich auch nach dem nationalsozialistischen Desaster an ihrer deutschnationalen Tradition festhielten. Sie sympathisierten mit der Politplattform der ehemaligen Nationalsozialisten, dem deutschnationalen VDU – also Verband der Unabhängigen –, der 1949 erstmals zur Wahl zugelassen wurde und schließlich in die FPÖ überging.
Diese Affinität scheint aber mittlerweile überwunden. Nach politikwissenschaftlichen Wählerstromanalysen – ich habe mich da im Vorfeld bei Prof. Peter Filzmaier abgesichert - wählen Evangelische heute überwiegend die ÖVP, was ich darauf zurückführe, dass diese Partei nach wie vor ihre christlichen Werte in das Zentrum ihres Programms stellt, ohne an ihrer früheren Parteistellung zugunsten der Katholiken festzuhalten.
Anders im Übrigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dort wählen die 30 % Protestanten mit großer Mehrheit die SPD.
Die Einstellung der evangelischen Kirche gegenüber dem Staat ist – um langsam zum Schluss zu kommen, meine Damen und Herren - mittlerweile völlig friktionsfrei, die uneingeschränkte Trennung zwischen Staat und Religion – das säkulare Prinzip also – ist voll inhaltlich akzeptiert. Was die Stellung von Frau und Familie betrifft – Stichworte Nicht- Zölibat und völlige Gleichstellung der Frau in Ihrer Organisation – hatte die evangelische Kirche immer schon modernere Ansätze als die meisten ihrer religiösen Mitbewerberinnen.
Und gegenüber den politischen Parteien hält die evangelische Kirche – wie mittlerweile die katholische Kirche auch – faire Äquidistanz. Eine Versöhnung mit den organisierten Arbeitnehmern, wie sie Kardinal Franz König in seiner beeindruckenden Rede 1973 vor dem österreichischen Gewerkschaftsbund vorgenommen hat, war nicht notwendig, weil die evangelische Kirche – anders als die Katholiken – nicht in den Unterdrückungsapparat gegen die demokratische Arbeiterschaft eingebunden war.
Die evangelische Diakonie wiederum ist bei der Unterstützung der sozial unterprivilegierten Menschen, insbesondere im Rahmen der Bekämpfung verfestigter Armut – eine Schande im Übrigen für das reiche Österreich - nicht wegzudenken.
Und schlussendlich haben Sie auch in der Aufarbeitung Ihrer – heute hier dargestellten – gar nicht friktionsfreien und zeitweise auch dunklen Geschichte einen wahrlich vorbildlichen Weg eingeschlagen, der sich an einem neuen Selbstverständnis im Rahmen der Menschen- und Bürgerrechte orientiert.
Die protestantischen Eliten - und mit ihnen wohl die überwiegende Mehrheit der Mitglieder – haben sich mittlerweile vom Nationalsozialismus und Antisemitismus in völliger Klarheit distanziert und die eigene Mitschuld eingestanden. Dumme antisemitische und den Nationalsozialismus beschönigende Aussagen wie etwa von Helmut Kukacka, des ÖVP-Politikers und seit 2015 Präsident der Arbeitsgemeinschaft katholischer Verbände, sind mir aus ihrer Glaubensgemeinschaft nicht erinnerlich.
Bischof Michael Bünker sprach bei der Generalversammlung der „Österreichischen Freunde von Yad Vashem“, dem Holocaust-Gedenkzentrum in Israel, in Linz am 8. Juni 2010 von „Schuld und Scheitern der evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus“ und betonte, dass das Gedenken an damals zum Einsatz für Demokratie und Menschenrechte heute verpflichte. Und weiter wörtlich: „Versöhnung schließt das Vergessen aus und eröffnet so die Zukunft. Für einen solchen Weg, der die Erinnerung heilt und die Zukunft eröffnet, setzt sich die Evangelische Kirche heute in Österreich ein.“
Bereits 1959 wurde das Porträtgemälde von Robert Kauer im Sitzungssaal des Oberkirchenrats entfernt und dessen Sohn übergeben. Dazu schreibt Ihr Bischof Michael Bünker im Vorwort der schon erwähnten Kauer-Biografie treffend: „Die Lücke, die durch die Abnahme des Porträts von Kauer... entstanden war, wurde sinnigerweise durch einen großen Spiegel geschlossen. Rund 50 Jahre lang sahen daher die Mitglieder der Kirchenleitung, wenn sie den Ort des fehlenden Kauer betrachteten, sich selbst.“
Besser kann man die Aufarbeitung dieser überkommenen – um nicht zu sagen verkommenen – Historie nicht gestalten. Ich gratuliere Ihnen dazu, wünsche Ihnen für Ihre Zukunft alles alles Gute und bedanke mich für die Aufmerksamkeit!