Rede in Leoben am 02.11.2015
Am 15. April 1945 - also vor etwas mehr als 70 Jahren - trafen sich 17 Vertrauensleute der Gewerkschaften in einer privaten Wohnung in Wien und legten den Grundstein für den überparteilichen Österreichischen Gewerkschaftsbund. Die provisorische Leitung des neuen Bundes bildete der Vorsitzende Johann Böhm von den Sozialisten mit seinen Stellvertretern Alois Weinberger von den Bürgerlichen und Gottlieb Fiala von den Kommunisten. ......
Am 15. April 1945 – also vor etwas mehr als 70 Jahren - trafen sich 17 Vertrauensleute der Gewerkschaften in einer privaten Wohnung in Wien und legten den Grundstein für den überparteilichen Österreichischen Gewerkschaftsbund. Die provisorische Leitung des neuen Bundes bildete der Vorsitzende Johann Böhm von den Sozialisten mit seinen Stellvertretern Alois Weinberger von den Bürgerlichen und Gottlieb Fiala von den Kommunisten. Schon von Anbeginn signalisierte man, dass der ÖGB in Zukunft ausschließlich Arbeitnehmerinteressen zu vertreten haben wird, unabhängig von den Parteien, aber keinesfalls unpolitisch.
Das war freilich nicht immer so. Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung beginnt ja auch nicht im Jahr 1945, sondern hat ihre Wurzel in frühen Berufsvereinigungen. Von den eigentlichen Gewerkschaften reden wir seit dem Koalitionsgesetz 1870, in welchem die Monarchie auf Druck der Arbeiter es gestattete, sich zu Arbeiternehmerinteressensorganisationen zusammenzuschließen.
Anders als der Österreichische Gewerkschaftsbund heute waren diese Gewerkschaften Richtungsgewerkschaften, d.h., sie fühlten sich einzelnen Parteien und politischen Bewegungen verpflichtet. Dementsprechend uneinheitlich waren ihre Ziele, ihr Auftreten und ihre Strategien. Dessen ungeachtet gelang es schon in der Monarchie, wichtige Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen und die Lebensbedingungen der Arbeiterin, des Arbeiters etwas zu verbessern.
Die erste große Zeit der Gewerkschaften kam mit der Errichtung der Republik. Bis 1920 konnten auf Grund des explosiven Druckes der Straße – dort agierten Arbeiter- und Soldatenräte – und mit Hilfe der Sozialdemokratie der bürgerlichen Seite so bedeutende Gesetze abgerungen werden wie der Acht-Stunden-Tag und die 48 Stunden Woche, das Betriebsrätegesetz mit der so wichtigen Außenseiterwirkung der Kollektivverträge, eine Arbeitslosenversicherung, der gesetzliche Urlaub, die Abschaffung des Arbeitsbuches, das Verbot der Kinderarbeit, die Regelung der Heimarbeit und die Errichtung der Arbeiterkammer. Dazu kam ein umfassender Mieterschutz.
Aber bereits ab diesem Zeitpunkt, 1920 also, versuchte der Bürgerblock, der bis zur Zerstörung der Demokratie ununterbrochen regieren sollte, für seine Klientel – insbesondere die Bauern und Unternehmer also – den „revolutionären Schutt“, wie man die so wichtigen Schutzgesetze für die Arbeitnehmer zynisch bezeichnete, wieder wegzuräumen. In den Betrieben und Unternehmen wurden Heimwehrgewerkschaften gegründet, die – als sogenannte „Gelbe“ – weniger den Arbeitnehmern, als den Fabriksherren selbst verpflichtet waren und den unabhängigen Gewerkschaften – und das waren nicht nur die sozialdemokratischen, sondern auch die christlich-sozialen und kommunistischen Gewerkschaften - das Leben schwer machten. Am Ende dieser Entwicklung standen bekanntlich die Errichtung der österreichischen Diktatur in den Jahren 1933 und 1934 unter Dollfuß und die Unterdrückung der demokratischen Gewerkschaften, die bis 1945 verboten bleiben sollten.
Das autoritäre Regime errichtete einen gleichgeschalteten Apparat, der ebenfalls den Namen „Gewerkschaftsbund“ trug und die Kontrolle der Arbeitnehmerschaft im Sinne der Diktatur sicherstellen sollte. Präsident dieser Institution war Johann Staud, zum einen ein bekennender Austrofaschist und zum anderen – verdeckt – ein Querverbinder zum Nationalsozialismus. Seine Doppelrolle nutzte ihm nach dem Anschluss an das totalitäre Dritte Reich 1938 allerdings wenig, er wurde deportiert und kam im Konzentrationslager um.
Zurück aber zu den ersten Jahren des überparteilichen demokratischen Gewerkschaftsbundes im Nachkriegsösterreich, in diese so schwierige Zeit, die von Zerstörung und Hunger geprägt war. Der Gewerkschaft gelang es von Anbeginn ihre volle Stärke auszuspielen, und das war zum Einen das Anwachsen der Mitgliedszahlen zu einer Massenbewegung und zum Anderen die Einbindung in die Sozialpartnerschaft. Gemeinsam mit Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer und den Landwirtschaftskammern bildete man eine beispiellose Autorität, an der die tatsächlich regierenden Parteien nicht vorbei kamen. Im Gegenteil: Man bediente sich gerne der Sachkompetenz der großen Vier.
Der erste Bundeskongress des ÖGB fand im Jahr 1948 statt, die bisher nur provisorischen Statuten wurden bestätigt. Der ÖGB war nunmehr ein Verein, der aus 16 Einzelgewerkschaften bestand. Die Struktur überdauerte Jahrzehnte, in den letzten Jahren kam es allerdings im Sinne der Effizienzsteigerung zu Zusammenschlüssen, sodass wir derzeit im Jahr 2015 sieben Fachgewerkschaften zählen. Ein gutes Beispiel für diese Fusionen ist etwa die Produktionsgewerkschaft PRO-GE, die aus mehreren früheren Einzelgewerkschaften entstanden ist.
Wesentliches Thema des Kongresses war der Marshall-Plan, der – naturgemäß gegen den Widerstand der Kommunisten – abgesegnet wurde und die beispiellose wirtschaftliche Erfolgsstory Österreichs begründen sollte. Darüber hinaus forderte man in einer Resolution – man höre und staune – bereits damals den gleichen Lohn bei gleicher Arbeit für Frauen – ein Thema, das – leider muss man sagen – auch heute noch brandaktuell ist.
Am 6. Oktober haben wir ja den „Equal-Pay-Day“ begangen, ab dem die Frauen im Vergleich zu den Männern gratis arbeiten. Wenn man die hohe Affinität der Frauen zur Teilzeit und Berufen im Niedriglohnsektor – die zu einem Gutteil selbst gewählt ist – herausrechnet, bleibt immer noch eine Einkommensdifferenz von 10 - 15 %, die einfach nicht akzeptabel ist.
Eine Bewährungsprobe der besonderen Art hatte der Gewerkschaftsbund 1950, zwei Jahre später, zu bestehen. Als die Kommunisten auf Grund eines Preis-Lohnabkommens zum Generalstreik aufgerufen hatten, der nach Vorbild Ungarns oder der Tschechoslowakei ohne weiteres zu einem Putsch hätte ausarten können, sorgten die Gewerkschaften dafür, dass die Infrastruktur, insbesondere der öffentliche Verkehr, aufrecht erhalten blieb. Franz Ohla, der später leider negative Gewerkschaftsgeschichte schreiben sollte, setzte seine Bauarbeiter ein, um einen möglichen Sturm des Bundeskanzleramtes zu verhindern.
Insgesamt war die Arbeit des Gewerkschaftsbundes in den 50er Jahren vom Wiederaufbau und dem Kampf um den Staatsvertrag gekennzeichnet: Arbeitsfördernde Maßnahmen des Bundes, der Länder und der Gemeinden wurden ebenso gefordert wie die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden bei vollem Lohnausgleich. Den Beschluss des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, das erstmals eine umfassende Absicherung bei Unfall, Krankheit und Alter vorsah, im Nationalrat im September 1955 konnte sich der ÖGB als eigentlicher Urheber dieser Errungenschaft mit Recht auf die Fahnen heften.
Im Mai 1959 starb der Mitbegründer des ÖGB Johann Böhm, der ab 1945 an der Spitze stand und bereits seit 1951 den Titel „Präsident“ trug.
In der Steiermark hieß im Übrigen der erste Vorsitzende der ÖGB-Landesorganisation Fritz Matzner, ein Elektriker, Betriebsratsobmann, Landessekretär der freien Gewerkschaften, Abgeordneter zum Landtag und Widerstandskämpfer gegen beide Diktaturen, ein Gewerkschafter aller erster Güte also. Der ÖGB Steiermark hat unlängst seinen Kommunikations- und Festsaal nach ihm benannt.
Böhms Nachfolger Franz Ohla sollte die Gewerkschaft in eine schwere Krise führen. Ohla griff in die Kasse der Bau-Holz- Gewerkschafter und finanzierte u.a. den Start der Kronenzeitung. Wegen Untreue gegenüber dem ÖGB wurde er 1969 verurteilt und saß eine einjährige Freiheitsstrafe ab.
Auf Ohla folgte Anton Benya, der bis 1987 – also ein Vierteljahrhundert – an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung stehen und die Sozialpartnerschaft gemeinsam mit seinem kongenialen Pendant in der Wirtschaftskammer, Rudolf Sallinger, zu ihrer Hochblüte bringen sollte. Eine seiner ersten Forderungen nach einem volkswirtschaftlichen Ausschuss wurde im Rahmen der paritätischen Kommission rasch erfüllt. Weiters forderte man einen Mindesturlaub von drei Wochen, die Auszahlung von Abfertigungen auch an Arbeiter sowie in der Bildungspolitik kostenlose Schulbildung und die Bereitstellung der Lehrmittel in allen Schulstufen. All diese – für uns bescheiden oder selbstverständlich klingenden –sozialpolitischen Anliegen konnten erst in der Ära Kreisky verwirklicht werden.
Auch wie man mit wirtschaftlichen Krisen umgehen sollte, zeigten unsere Altvorderen vor: Als Mitte der 60er Jahre die Hochkonjunktur einer Rezession gewichen war, forderte der ÖGB in einer Resolution zur wirtschaftlichen Lage die Belebung der öffentlichen und privaten Investitionstätigkeit. Mit anderen Worten: Geld in die Hand nehmen, damit die Nachfrage steigt und die Konjunktur sich belebt. Ein Rezept im Sinne des Nationalökonomen Keynes, das – entgegen der Auffassung neoliberaler Gurus – stärker wiederbelebt werden sollte, um uns hoffentlich aus der derzeit herrschenden Krise zu führen.
Erste Ansätze einer solchen notwendigen Politik zeigen sich bei EU-Stabilitätspakt und der Fiskalpolitik der Europäischen Zentralbank, wobei allerdings mehr und mehr eine Zweckbindung der Mittel zu Gunsten beschäftigungssichernder Investitionen in die reale und virtuelle Infrastruktur einzufordern sein wird.
Es mutet schon seltsam an, dass es offenbar nur schwer möglich ist, bei großer Verfügbarkeit entsprechenden Kapitals nicht endlich die nebenrangigen holprigen Straßen und baufällige Brücken im steirischen Verkehrssystem zu sanieren. Oder nunmehr privatisierte Unternehmen – voraus Österreichs erster Telekommunikationsanbieter – nicht in der Lage sind, Breitbandtechnologie flächendeckend umzusetzen und etwa in einer Wohnung im Zentrum von Bruck an der Mur WLAN zu installieren.
Die Ernte der damaligen ÖGB-Strategie konnte bereits einige Jahre später eingefahren werden, ab Beginn der 70-iger Jahre erlebte Österreich eine Hochkonjunktur und ein enormes Wirtschaftswachstum.
Das war an sich eine schöne Zeit zu feiern, und 1975 tat dies der ÖGB auch ausgiebig, schließlich war er 30 Jahre alt. Der damalige Bundespräsident Rudolf Kirchschläger erklärte in seiner Eröffnungsansprache: „Die glückliche Entwicklung, die unsere Republik genommen hat, wäre nicht denkbar ohne die zielbewusste und weise Politik des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Er ist zu einer gesellschaftlichen Institution geworden, die in stürmischen Zeiten als bewahrendes Element und in ruhigen Zeiten als initiativer Faktor wirkte.“ Das erinnert an die Ansprache Thomas Klestils fast 30 Jahre später, im Jahre 2003, als dieser die Gewerkschaftsbewegung als „das Gewissen einer modernen Wirtschafts- und Sozialpolitik“ gewürdigt und hinzugefügt hat: „Weil ein modernes Land, das seinen Gewerkschaften keinen Handlungsspielraum zubilligt, eines von beiden nicht ist: entweder nicht modern oder keine Demokratie.“ Standing Ovations waren dem Bundespräsidenten sicher.
Und worum ging es noch in den 70er Jahren? Um die Erhöhung des Mindesturlaubes auf vier Wochen, - heute wollen wir endlich die sechste Woche für alle älteren Arbeitnehmer durchsetzen - die Einführung der Pflegefreistellung – erst 20 Jahre später, Mitte der 90-iger Jahre schließlich umgesetzt – und die Möglichkeit der Bildungsfreistellung für alle Arbeitnehmer, die wir bis heute nur auf sehr bescheidenem Niveau – Stichworte Bildungskarenz und Weiterbildungsgeld –verwirklicht haben.
Die Arbeitnehmerinteressenvertretungen Gewerkschaftsbund und Arbeiterkammer waren seit jeher männlich dominiert, was insofern doch sehr überrascht, als die beiden Arbeitnehmer- Lobbys gesellschaftspolitisch progressiv auftraten und in der Politik einen doch geschlechterspezifisch solidarischen und egalitären Anspruch erhoben. Dennoch dauerte es bis zum Jahr 1979, dass endlich auch eine Frau in das Präsidium des Gewerkschaftsbundes gewählt wurde, was auch nur möglich war, weil man das Gremium entsprechend erweiterte. Immerhin, unter den sechs Vorsitzenden fand sich nunmehr die erste Frau: Maria Metzker.
Die Zeiten wurden nicht leichter, der Gewerkschaftsbund hatte sich in Folge des Umbruches der Wirtschaft neuen Herausforderungen zu stellen. Der zehnte Bundeskongress der Gewerkschaft im Jahr 1983 stand unter dem Motto: „Arbeit für alle – schwierige Zeiten gemeinsam meistern.“ Anton Benya sagte in seiner Begrüßungsansprache: „Ich hoffe, dass wir in einer Zeit, die wirtschaftlich bedeutend schwieriger als in den letzten zehn Jahren ist, das Erreichte halten können, wieder eine möglichst hohe Beschäftigung erreichen und – den wirtschaftlichen Bedingungen angepasst – reale Lohnerhöhungen durchsetzen können.“
Die Parallelen, meine Damen und Herren, zu heute sind unverkennbar: Am Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise ist der Österreichische Gewerkschaftsbund – mit Sicherheit eine richtige, weil verantwortungsbewusste Strategie – in die Defensive gegangen, um zum einen das bestehende Niveau, zum andern aber auch möglichst viele Arbeitsplätze zu sichern. Dies allerdings in der klaren Erwartung, dass die Wirtschaft bei den nunmehrigen sich erholenden Konjunkturdaten und auch Entwicklungsprognosen die anstehenden Gewinne mit den Arbeitnehmern teilen werde.
Es hat sich aber bereits in den Jahren vor der Krise gezeigt, dass von diesem – für den sozialen Frieden so wichtigen – Grundkonsens mehr und mehr abgegangen wird. Die Gehaltsverhandlungen der letzten Jahre haben zwar durchaus respektable Ergebnisse gebracht. Auch bei der heurigen Lohnrunde der Metaller war die sogenannte „Benja-Formel“ – Abgeltung der Inflation und Zuwachs der Hälfte des Wirtschaftswachstums – Richtschnur. Auch die Freizeitoption ist ein erfreuliches Zeichen. Und dennoch ist zu befürchten, dass nicht zuletzt aufgrund der kalten Progression die Reallöhne weiter sinken und die Armutsquote steigen wird.
1987 brachte einen Generationswechsel an der Spitze der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, Fritz Verzetnitsch löste das ÖGB-Urgestein Anton Benya ab. Der neue Präsident, der 2006 im Rahmen des BAWAG-Skandals unrühmlich aus seiner Funktion entlassen werden sollte, brachte durchaus neuen Schwung in die Bewegung, er wollte – ganz im Sinne der Modernisierung – den Österreichischen Gewerkschaftsbund nach den Grundsätzen Kundennähe, Offenheit und Transparenz neu gestalten.
Die 90er Jahre waren geprägt von einer steigenden Arbeitslosigkeit trotz hohem Beschäftigungswachstum. Der ÖGB setzte diesem Problem seine Vorstellungen von einer solidarischen Wirtschaft entgegen, an der möglichst viele teilnehmen und auch mitgestalten können. Die Herrschaft bestimmter Monopole, undurchschaubare multinationale Zusammenschlüsse und neoliberale Konzepte allgemein wurden als Gefahr für den Zusammenhalt in der Gesellschaft erkannt.
Vor allem aber trat man dem Problem entschieden entgegen, dass sich viele Arbeitnehmer das Leben nicht mehr leisten konnten, obwohl sie fleißig und hart arbeiteten. Für diese„Working poor“ fordert der ÖGB ein ordentliches Einkommen statt Almosen. Es kostete enorme Mühe einen Mindestlohn von € 1.000,00 – brutto wohlgemerkt – weitgehend zu verwirklichen.
Im Vergleich dazu haben wir in Deutschland derzeit einen Mindestlohn von € 1.473,00.
Es kann nicht sein, dass gerade privilegierte Arbeitgeber wie Ärzte, Rechtsanwälte und Notare sich weigern, adäquate – ihrer Wirtschaftsleistung entsprechende – Kollektivvertragssätze abzuschließen.
Hier sollte es den Gewerkschaften möglich sein, auch dann das Bundeseinigungsamt zur Erzielung eines angemessenen Ergebnisses anzurufen, wenn auf der Arbeitgeberseite ein kollektivvertragsfähiger Verband existiert. Gefordert wird – zuletzt von den ÖGB-Frauen – ein Mindestsatz von 17.000,00 € brutto.
Den Beitritt zur Europäischen Union 1995 sah der ÖGB grundsätzlich positiv, er wies aber nicht nur auf die demokratiepolitischen Defizite der Gemeinschaft hin, sondern forderte auch, dass sich die Union – heute aktueller den je – von einem reinen neoliberalen Wirtschaftskomplex hin zu einer sozialen Solidargemeinschaft entwickeln müsse, in denen die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung auch entsprechend berücksichtigt werden.
Hand in Hand ging eine Internationalisierung der europäischen Gewerkschaftsbewegungen, an der der Österreichische Gewerkschaftsbund mit großem Engagement teilnahm. Der Österreichische Gewerkschaftspräsident war ja auch lange Jahre Präsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes, und der internationale Gewerkschaftsbund, der das erste umfassende weltweite Gewerkschaftsnetz darstellt, wurde im Jahre 2006 in Wien gegründet.
Die politische Wende des Jahres 2000 brachte eine weitere Verschärfung und tatsächlich eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer mit sich. Die Regierung fuhr ein Sparprogramm, das nicht von allen Bevölkerungsgruppen getragen war, sondern einseitig die Arbeitnehmer belastete. Die Schere zwischen den Einkommen der Unselbständigen und jenen aus Selbständigkeit, Vermögen und Kapitalanlagen öffnete sich sprunghaft. Private Institutionen wie Caritas und Volkshilfe sind – in einem so reichen Land wie Österreich ein sozialpolitischer Skandal! – mit der Bekämpfung wirklicher und zunehmender Armut konfrontiert.
Die österreichischen Gewerkschaften nahmen den Frontalangriff auf die Arbeitnehmerschaft – ich erinnere an die gravierenden Pensionsverschlechterungen, Unfallrentenbesteuerung, Ambulanzgebühren, Urlaubskürzung bei Ausscheiden etc. etc. – Vieles vom Verfassungsgerichtshof wegen nicht Einhaltung der elementaren Spielregeln wieder aufgehoben – nicht widerspruchslos hin. Aus der Sozialpartnerschaft auch unter Protest der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung abgedrängt, organisierte der ÖGB Demonstrationen, teilweise brachte er bis zu 200.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Straße. In einer Urabstimmung, an der 800.000 Menschen teilnahmen, wurde der sozialen Kälte klar die rote Karte gezeigt.
In diesen turbulenten Zeiten stieg das Ansehen und die Zustimmung zu den Gewerkschaften. Werden Mitglieder wie Nichtmitglieder der Gewerkschaft nach der Zufriedenheit mit dieser gefragt, ergeben sich erstaunlich hohe positive Werte.
Gerade in dieser zukunftsorientierten Grundstimmung traf die BAWAG-Krise 2006 die Gewerkschaften umso härter.
Der Verlust der BAWAG, der allerdings mit keiner persönlichen Bereicherung eines Gewerkschafters verbunden war, hat meines Erachtens zwei Aspekte: Einen moralischen und einen inhaltlichen. Moralisch bedeutete die Krise, dass die Gewerkschaften von ihrer hohen Reputation und Glaubwürdigkeit, die sie im Rahmen der rechtskonservativen Wende aufbauen konnten, zumindest teilweise wieder einbüßten. Dieser Aspekt der Krise hielt allerdings nicht lange an, mittlerweile haben die Gewerkschaften ihr Terrain wohl endgültig wieder gut gemacht.
Die Aktion „Fair teilen“ des Jahres 2010 ist dafür ebenso ein gutes Beispiel wie die auf Druck der Gewerkschaften erreichte Lohnsteuerreform, die dem durchschnittlichen Arbeitnehmer ab 2016 immerhin 100,00 € netto mehr in der Brieftasche bringen wird. Eine entsprechende Informationsinitiative ist – wie ich gehört habe – bereits geplant.
Problematischer hingegen ist wohl der inhaltlich-materielle Aspekt zu sehen: Trotz des in Österreich so hervorragend ausgebauten Instruments der Sozialpartnerschaft steht und fällt die Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften mit der glaubwürdigen Drohung, im äußersten Fall erfolgreich die Produktionsprozesse unterbrechen zu können. Auch wenn – wie man hört und was sehr zu begrüßen ist – auch in Zukunft Mittel für Arbeitskonflikte zur Verfügung stehen werden, wird es doch auch Aufgabe der Gewerkschaften der nächsten Jahre sein, einen grundsätzlichen Mentalitätswandel in ihrer Klientel herbei zu führen, wenn wir auch im Punkte Konfliktfähigkeit nicht gleich Italiener oder Franzosen werden müssen.
Die Entwicklung, meine Damen und Herren – um zum Schluss zu kommen -, die ich skizziert habe, zeigt aber auch, dass die Gewerkschaften nötiger sind den je. Der Einsatz für eine existenzsichernde Arbeit stand nicht nur am Anfang der Gewerkschaftsbewegung, er ist in Zeiten der atypisch Beschäftigten, der neuen Selbständigen, der Mc-Jobs und des Crowd-Workings, wo Arbeitsprozesse in kleinste Teile zerlegt und über Internet zu rechtlich wie sozial völlig unsicheren Werkvertragskonditionen ausgelobt werden, wieder enorm wichtig geworden. Ohne Gewerkschaft, meine Damen und Herren, kann der Einzelne in diesem immer brutaler werdenden Verteilungskampf nicht bestehen, ohne Gewerkschaft ist unser sozialer, solidarischer Wohlfahrtsstaat verloren. Wünschen wir also in unser aller Interesse dem Österreichischen Gewerkschaftsbund für die nächsten 70 Jahre alles Gute!