100 Jahre Arbeiterkammer – ein Verdienst? in Karl/Mantl/Poier/Prisching/Ziegerhofer (Hrsg.), Steirisches Jahrbuch für Politik (Wien 2020) 55 ff
1975 besingt Wolfgang Ambros hundert Jahre Zentralfriedhof in Wien-Simmering. 1978 zelebriert die DDR den dreißig-jährigen Bestand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der in seiner Satzung die „führende Rolle der SED, als marxistisch-leninistische Vorhut der deutschen Arbeiterklasse“ [1] überschwänglich preist. 2013 feiert die globale Humanitas 150 Jahre Internationales Rotes Kreuz. Alle Jahre Kaisers Geburtstag; bis heute in Millstatt am See. Ein Jubiläum, ein rundes gar, sagt wenig über die Qualität des gefeierten Jubilars. Kann gut sein, kann weniger gut sein.
Im Februar 1920 wurden die gesetzlichen Grundlagen für die österreichischen Arbeiterkammern geschaffen. Die steirische Kammer hat dies mit einem Festakt gewürdigt, eine Ausstellung gestaltet und eine umfangreiche Festschrift[2] aufgelegt. Die anderen Bundesländer werden mit Feierlichkeiten und Aktivitäten folgen.
Hundert Jahre Arbeiterkammer. Ein stolzes Alter, gewiss. Aber auch ein Verdienst? Was hat die Institution zur gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen? Geleistet für die Demokratisierung der Republik, die Festigung des Rechtsstaates, den sozialen Ausgleich?
Aufgaben und Leistungen
In Österreich sind die – in den Bundesländern autonom eingerichteten – Arbeiterkammern und die Bundesarbeitskammer „berufen, die sozialen, wirtschaftlichen, beruflichen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu vertreten und zu fördern“.[3] Die übrigen europäischen Arbeiterkammern– Bremen und Saarland in Deutschland sowie Luxemburg – nennen noch weitere Förderziele: Die Arbeiterkammern von Saarland und Bremen heben ausdrücklich ökonomische Interessen hervor, Bremen zudem die Gleichberechtigung der Geschlechter.[4] Alle drei nicht österreichischen Kammern zählen auch die „Integration von Ausländern und Ausländerinnen“ zu ihren vornehmlichsten Aufgaben.[5]
In den Anfängen der Ersten Republik hatten die Arbeiterkammern prioritär physischen Raum für ihre Tätigkeiten zu schaffen. Sie setzten ihre Schwerpunkte in Bildung und gutachterlicher Expertise. Dazu kamen erste Ansätze von Rechtsberatung und -vertretung. In der Steiermark, in Graz, errichtete die Arbeiterkammer ihr repräsentatives Gebäude in der Hans-Resel-Gasse. 1927 folgte das Haus am Buchmüllerplatz in Leoben als erste Außenstelle. Das Sportstadion in Eggenberg hat die Kammer 1927 begründet, heute befindet sich hier ein städtisches Freibad.
Nach 1945 stieg die Arbeiterkammer mit dem ÖBG sowie der Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer zu einem Pfeiler der legendären österreichischen Sozialpartnerschaft auf. Sie steht damit für jene soziale und wirtschaftliche Stabilität, die die Grundlage für die Erfolgsstory Österreich schuf. Die Krisen Ende des 20. Jahrhunderts - noch heute verbunden mit den Namen des Präsidenten und des Kammerdirektors in der Steiermark - führten zu einem enormen Modernisierungsschub. Das Arbeiterkammergesetz 1992 verankerte einen gesetzlichen Anspruch auf Rechtsberatung und -vertretung. Allein 2019 wurden österreichweit mehr als 2 Millionen Beratungen und 46.500 Vertretungen vor Gericht vorgenommen. In Arbeitsrechtssachen wurden € 78,5 Millionen erstritten, in Insolvenzverfahren € 160 Millionen erwirkt. Dazu kommen die Beratungen in Wirtschafts- und Bildungsfragen. Alle maßgeblichen Gesetze der Republik und der Länder werden begutachtet, in zahlreichen Resolutionen der Voll- und Hauptversammlungen Forderungen an Parlamente und Regierungen zur Verbesserung der Lage der Arbeitnehmerschaft formuliert. Im Rahmen einer Digitalisierungsoffensive wurden 2019 für betriebliche Entwicklungsprojekte € 3,8 Millionen an Fördergeldern ausgeschüttet.
Die Arbeiterkammeridee
In der Entwicklung der Arbeiterkammeridee seit Beginn des 19. Jahrhunderts zeigen sich europaweit unterschiedliche Inhalte und Ziele. Doch sind im internationalen Vergleich zwei gemeinsame Linien, die öffentlich-rechtliche Arbeitnehmerinteressenvertretungen vorantrieben, klar zu erkennen.
Die rasant fortschreitende Industrialisierung und Technisierung hatten zu einer scharfen Konfrontation zwischen Arbeit und Kapital geführt, die kaum mehr friedlich zu bewältigen war. Die Arbeitnehmerschaft begann sich zu organisieren, sie streikte in den Betrieben und protestierte auf den Straßen, um Augenhöhe im ökonomischen und sozialen Verteilungskampf zu gewinnen.
Die bestehenden Herrschaftssysteme erkannten die Gefahr von sozialen Revolten und Revolutionen, die zu einem völligen gesellschaftlichen Umbruch – wie später in der Russischen Revolution 1917 – führen hätten können. Sie versuchten über staatlich gelenkte oder überwachte Agenturen, das angestaute Konfliktpotential zu verringern.[6] Diese Einrichtungen sammelten vorerst bloß Informationen über die Lage und Wünsche der Arbeitnehmerschaft. Später dienten sie dazu, die Arbeiterbewegung vorsichtig – mehr oder weniger ausgeprägt und kanalisiert – in die bestehende Ordnung einzugliedern. Ein Trostpflaster um die Arbeitnehmerschaft, die offen das allgemeine Wahlrecht forderte, zu beruhigen.
Die ersten arbeitsstatistischen Behörden, eingerichtet nach Vorbild des Bureau of Labour Statistics in Massachusetts seit 1869, entwickelten sich zaghaft zu Vertretungskörperschaften. Ziel war es, in paritätischen Systemen einen möglichst gewaltfreien Ausgleich der Sozialpartner zu ermöglichen. Die Streikwelle in Belgien 1886 führte zur Einrichtung der Industrie- und Arbeitsräte (Conseils de l’Industrie et du Travail).[7]
Die Arbeiterbewegung erkannte zwar den Pferdefuß, mit ein wenig Partizipation eine nennenswerte Demokratisierung zu verhindern, nützte aber die Möglichkeit, mit staatlicher Unterstützung eigene Ziele voranzutreiben. Der Fuß war in der Tür. Arbeiterkammerähnliche Einrichtungen entstanden auch in den Niederlanden, in Luxemburg, in Italien, in der Schweiz (Genf und Zürich), später auch in Deutschland (im Bergbau sowie in Bremen, Groß-Hamburg und Saarland) und im Königreich Jugoslawien.
Eine besondere Bedeutung in der Entwicklung der europäischen Arbeiterkammeridee kam den französischen Arbeitsbörsen (Bourses du Travail) zu. Diese Arbeitsbörsen verwirklichten erstmals den heute allgemein anerkannten Grundsatz, die Arbeitsvermittlung der privaten Initiative zu entziehen. Der Arbeitsmarkt ist bis heute in nahezu ganz Europa staatlich oder halbstaatlich unter Einbeziehung der Sozialpartnerschaft geregelt.[8]
Die Gewerkschaften erkannten, dass ihnen hier ein Mittel geschaffen war – bei Beibehaltung des Grundsatzes des freien Arbeitsvertrages – „mit gleichen und gesetzlichen Waffen mit dem Kapital zu kämpfen“[9]. Die Arbeiterbewegung erhielt über die Gewerkschaften nicht nur Einfluss auf den örtlichen Arbeitsmarkt, sondern auch finanzielle Ressourcen. Expertise konnte erworben werden. Räumlichkeiten standen für Versammlungen zur Verfügung, Bibliotheken für die Bildung der Unterprivilegierten. Die Arbeitsbörsen bereiteten den Weg für die Gründung der Confédération générale du travail (CGT), dem Dachverband der französischen Gewerkschaften. In veränderter Form bestehen die französischen Arbeitsbörsen bis heute. Sie werden von den Gewerkschaften betrieben und bieten niederschwellig Rechtsberatung, berufliche Aus- und Fortbildung und Kulturveranstaltungen.[10]
…und die Gewerkschaften?
Arbeiterkammern stehen – in welcher Form und Intensität auch immer – in Konkurrenz zu Gewerkschaften. Sie bieten ähnliche Leistungen an. Werden diese als ident empfunden, stellt sich für (potenzielle) Mitglieder von Gewerkschaften die Sinnfrage: Warum zwei Institutionen, wofür zweimal zahlen? Für Gewerkschaften ergibt sich daraus ein kühles Kalkül: Wie weit überwiegt der Nutzen in Form von materiellen und immateriellen Ressourcen aus den öffentlich-rechtlichen Institutionen, an denen sie beteiligt sind oder die sie beherrschen, gegenüber der - in Kauf zu nehmenden - Konkurrenz?
In diesem Lichte ist die Skepsis der österreichischen Gewerkschaften gegenüber der Arbeiterkammeridee in Zeiten der Monarchie verständlich. Wie sagte Victor Adler über das Kaiser/Königreich so treffend? Eine Diktatur, gemäßigt durch Schlamperei.[11] Das arbeitsstatistische Amt von 1889, in das zwar Arbeiter entsendet aber nicht demokratisch gewählt wurden[12], lehnten die Gewerkschaften ab. Sie setzten auf freie Organisation, die ihnen das Koalitionsgesetz von 1870, wenn auch durch gezielte behördliche Schikanen beschränkt, ermöglichte und – gemeinsam mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPÖ) – auf völlig gleichberechtigte Partizipation in allen staatlichen Vertretungskörpern. Gewerkschaften und Sozialdemokratie gaben ihren Widerstand gegen das Arbeiterkammerprojekt erst 1907 auf, als sich die Diskussion von der Wahlrechtsfrage gelöst hatte.
Als schließlich die Errichtung der Arbeiterkammern unmittelbar bevorstand, lobte der Metallgewerkschafter Anton Hueber 1920 diesen „wichtigen Schritt“ zur Gleichberechtigung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen überschwänglich.[13] Die christlichsoziale Partei und mit ihr die Christgewerkschafter stimmten der Gründung der Arbeiterkammern nicht zuletzt deshalb zu, weil sie in dieser Einrichtung – wie im Übrigen auch in der umfassenden Sozialgesetzgebung unter Ferdinand Hanusch[14] – eine Eindämmung der „Rätegefahr“, die sich bereits an den Grenzen zu Ungarn und Bayern etabliert hatte, sah. Die Christdemokraten verhinderten allerdings die Einbeziehung der Land- und Forstarbeiter, wie ihnen dies auch nach der Wiedererrichtung der Arbeiterkammern 1945 gelingen sollte.[15]
Seit den ersten Arbeiterkammerwahlen kandidieren Gewerkschaftslisten. Die Wahlen 1921 und 1926 gewannen die Freien – sozialdemokratischen – Gewerkschaften haushoch, in der Steiermark mit 90 bzw. 80 Prozent.[16] Seitdem wurde die Zusammensetzung der Arbeitnehmerparlamente doch wesentlich bunter, in Tirol und Vorarlberg residieren mittlerweile christdemokratisch–konservative Arbeiterkammerpräsidenten. Als Thinktank der Arbeitnehmerbewegung liefern die Arbeiterkammern den Gewerkschaften bis heute unverzichtbare Expertise für eigene Aufgaben und bieten ihnen erhebliche materielle Ressourcen. Die enge Verschränkung von Gewerkschaften und Arbeiterkammern ist ausdrücklich als Zusammenarbeitsgebotgesetzlich festgeschrieben.[17] Diese Verschränkung führt dazu, dass die österreichische Gewerkschaftsbewegung im europäischen Vergleich – trotz der allgemeinen Schwächung – noch immer eine erhebliche Stärke besitzt. Dies schlägt sich in mittlerweile bereits reduzierten, immer aber noch ansprechenden Arbeits- und Sozialrechten ebenso nieder wie in einer sehr hohen Tarifbindung der Mindestentgelte.[18]
In diesem Lichte wäre wohl nicht die Schwächung oder gar Abschaffung der österreichischen Arbeiterkammern zu diskutieren, sondern eine Etablierung dieser Institutionen im gesamten EU-Raum. Dies wäre umso wünschenswerter, als die europäischen Gewerkschaftsbewegungen mehr und mehr an Mitglieder und Gestaltungskraft verlieren[19] und die angestrebte Augenhöhe von Kapital und Arbeit längst untergraben ist.[20] Dass die Installierung einer Arbeitskammer in Brandenburg vor einigen Jahren just am Widerstand der Gewerkschaften gescheitert sein dürfte, ist wenig nachvollziehbar.[21]
Sozialpartnerschaft und Parität
Wesentliches Element der Arbeiterkammeridee ist die Förderung der Sozialpartnerschaft. Lange Jahre wurde die Frage diskutiert, ob diese innerhalb der jeweiligen Institutionen verankert werden, also die Besetzung paritätisch sowohl mit Arbeitnehmer- als auch Arbeitgebervertretern erfolgen sollte. Besonders leidenschaftlich wurde die Debatte in der Weimarer Republik geführt, die bestrebt war, den Rätegedanken als Kompromiss mit dem linken politischen Rand in die Wirtschaftsverfassung einzubinden.[22] Schlussendlich ist der paritätische Ansatz aber in allen europäischen Arbeiterkammern gescheitert. Dies lag nicht zuletzt daran, dass sich die Unternehmer weigerten, Arbeitnehmervertreter in ihren eigenen Handels- und Wirtschaftskammern zuzulassen. Eine parteipolitische Frage war es nicht: Auch Sozialdemokraten konnten dem Interessenausgleich innerhalb einer einzigen Institution viel abgewinnen. So hätte Ferdinand Hanusch, der Mastermind der grundlegenden Sozialgesetzgebung 1918 bis 1920, gerne die bestehenden Handels- und Gewerbekammern zu paritätischen Institutionen umgewandelt, um ihrem einseitigen „schädlichen Einfluss“[23]entgegenzuwirken.
Die Entscheidung gegen die paritätische Ausrichtung der Kammern war richtig. Es hebt die demokratische Qualität, wenn die Willensbildung in unabhängigen Institutionen vorgenommen wird. Der Abgleich der Gruppeninteressen erfolgt entweder ungeregelt - auf informeller Ebene - oder in eigenen gesetzlichen Einrichtungen wie der Paritätischen Kommission, die in der österreichischen Nachkriegszeit entscheidend für die notwendige Preis- und Lohnstabilität gesorgt hat.[24]
Die Wirkung von Arbeiterkammern und mit ihr der Sozialpartnerschaft auf Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit einer Gesellschaft ist noch nicht ausreichend untersucht. Eine Studie aus dem Jahr belegt allerdings, dass die einzigartige Kammer- und Sozialpartnerstruktur in Österreich für ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von etwa 0,2 Prozentpunkte verantwortlich zeichnet.[25]
…und die Demokratie?
Die Körperschaften des öffentlichen Rechts als berufliche Interessenvertretungen mit transparenten periodischen Wahlen unter staatlicher Aufsicht verschaffen der Sozialpartnerschaft besondere Legitimität. Dadurch können diesen Institutionen auch im Rahmen der Selbstverwaltung und des übertragenen Wirkungsbereiches behördliche Aufgaben zugewiesen werden.[26] Eine solche Legitimität ist naturgemäß nur im Rahmen einer Pflichtmitgliedschaft zu erreichen. Damit ist aber auch die Kritik gegen diesen „Zwang“ obsolet. Das wird auch von den Mitgliedern der österreichischen Arbeiterkammern, an der sich die Kritiker im besonderen Maße reiben[27], bestätigt: In einer 1996 bundesweit durchgeführten Mitgliederbefragung bekannten sich über 90 Prozent der Mitglieder zur gesetzlichen Verankerung mit Pflichtmitgliedschaft.[28]
Wie wertvoll die Arbeiterkammern für ein demokratisches System sind, zeigt allein die Tatsache, wie vehement Diktaturen gegen sie vorgingen. Das austrofaschistische Regime hob bereits Ende 1933 die demokratische Willensbildung in den Arbeiterkammern auf. Nach dem gescheiterten Aufstand der demokratischen Opposition im Februar 1934 wurden die Arbeiterkammern unter Aufsicht eines Regierungskommissärs gestellt. Die Nationalsozialisten eliminierten die Arbeiterkammern nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch 1938 in Österreich und 1940 in Luxemburg. Ihr Vermögen wurde in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert.[29]Der Arbeiterkammerpräsident von Luxemburg, Léon Weirich, bezahlte seinen Widerstand gegen die Auflösung in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager mit seinem Leben.[30]
Ausblick
Nicht nur die Erfahrungen in den Diktaturen zeigen, dass unabhängige, selbstbewusste Interessenpolitik nicht immer gerne gesehen wird. Demokratische und pluralistische Prozesse sind mühsam. Arbeiterkammern werden zuweilen als lästig empfunden. Dies zeigte sich vor allem in Zeiten der konservativ-rechtspopulistischen Regierungsperioden 2000 bis 2006 und 2017 bis 2019. Während sich in den Alleinregierungen von Josef Klaus und Bruno Kreisky von 1966 bis 1983 die Sozialpartnerschaft und mit ihr die Kammern unveränderter Anerkennung erfreuten, veränderte sich die bislang gewohnte Konkordanz zu bisweilen scharfer politischer Konkurrenz. Infolge der interessenpolitisch verständlichen Widerstände der Gewerkschaften und Arbeiterkammern gegen verschlechternde Eingriffe in das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht und die paternalistische Umfärbung der sozialpartnerschaftlich austarierten Sozialversicherungsanstalten[31] erhöhte sich der politische Druck auf die Sozialpartnerschaft, vor allem aber die Arbeiterkammern. Die – verhohlene oder weniger verhohlene – Drohung stand im Raum, über legistische Eingriffe – vor allem die Kürzung der finanziellen Ressourcen – die kritische Expertise in den Arbeiterkammern mundtot zu machen.
Diese, konstitutionell möglicherweise gedeckten, dem Geist des Pluralismus aber widersprechenden Angriffe waren ein wesentlicher Grund, dass das Kammersystem und die Sozialpartnerschaft 2008 in der Bundesverfassung[32] mit einer besonderen Bestandsgarantie ausgestattet wurden. Dies verschafft den Arbeiterkammern Sicherheit, auch wenn unklar bleibt, wie weit diese Garantie reicht und ob sie - vor allem - die finanziellen Ressourcen, die notwendige Expertise, die Unabhängigkeit sichert.[33] Unbestritten ist wohl, dass die ohnehin schon bestehende Schieflage zwischen den Ressourcen der Arbeitgeberverbände einerseits und der Arbeitnehmerverbände andererseits nicht noch weiter zu Lasten der Arbeit gegenüber dem Kapital verschoben werden dürfen.[34] Den Wert einer konstitutionell gesicherten Sozialpartnerschaft in unruhigen Zeiten hat sich einmal mehr erwiesen. Die bisherige Bewältigung der Covid-19-Krise unter Berücksichtigung aller Gesellschaftsinteressen ist nicht zuletzt einer wiederbelebten, konstruktiven Sozialpartnerschaft geschuldet. Sowohl die Ausfallsunterstützungen für Unternehmer als auch Kurzarbeits- und Home-Office-Regelungen tragen die Handschrift der interessenabgleichenden Sozial- und Wirtschaftsverbände.
Akzeptanz und Bestand der Arbeiterkammern werden freilich auch davon abhängen, wie weit sie bereit sind, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Dass sie dafür reif sind, zeigen ihre Initiativen: Sie fordern für prekäre Beschäftigungsverhältnisse die Einbindung in das zwingende Arbeitsrecht und tariflich festgesetzte Mindestentgelte. Ihnen ist bewusst, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht an den nationalen Grenzen endet, sondern länderübergreifende Rahmengesetze ebenso notwendig sind wie eine stärkere Vernetzung und Kooperation der europäischen Arbeitnehmer-Interessenvertretungen. Wenn das Arbeiterkammergesetz von Saarland[35] ausdrücklich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Nachbarregionen (Saar-Lor-Lux) als prominente Aufgabe nennt, muss dies für andere Kammern Vorbild sein.
Sind also 100 Jahre Arbeiterkammer ein Anlass der Freude? Ich denke: ja. Gewiss. Die Arbeiterkammer war in der Geschichte ein Motor des sozialen Fortschritts, sie wird – soweit sie sich den neuen Anforderungen der Zukunft stellt – ein Garant für Stabilität und Sicherheit bleiben. Ein Anker der sozialen Demokratie.
Quellenangabe:
[1] Satzung des FDGB, 7.7. Bundeskongress, Handbuch für Gewerkschaftsfunktionäre. Dokumente, Gesetze, Verordnungen, Beschlüsse, Berlin 1970.
[2] Anzenberger/Grabuschnig/Halbrainer (Hrsg.) Festschrift Arbeiterkammer Steiermark. 100 Jahre Gerechtigkeit (2020).
[3] § 1 Arbeiterkammergesetz.
[4] § 2 Abs. 1 Gesetz über die Arbeitskammer des Saarlandes; § 2 Abs. 1 und 2 Arbeiterkammergesetz Bremen.
[5] Vgl. § 2 Abs. 2 Arbeiterkammergesetz Bremen; § 2 Abs. 4 Arbeiterkammergesetz Saarland.
[6] Glaser, „Ein langjähriger Wunsch der Arbeitnehmerschaft“. Die Arbeiterkammer an der Saar bis zur Rückgliederung 1957 (2017) 103.
[7] Glaser, „Ein langjähriger Wunsch …“ 49.
[8] § 1 Arbeitsmarktservicegesetz.
[9] Vgl. Schöttler, Die Entstehung der „Bourses du Travail“. Sozialpolitik und französischer Syndikalismus am Ende des 19. Jahrhunderts (1982) 61 f.
[10] Règlement de la Bourse du Travail de Paris, Article 1, § 8, 25.06.1970.
[11] Misik, Ein seltsamer Held. Der grandiose, unbekannte Victor Adler (2016) 39.
[12] Vgl. Schöttler, „Bourses du Travail“ 78 f.
[13] Hueber, zit. nach: Strohmeier, Anton Hueber (1861–1935). Organisator der modernen österreichischen Gewerkschaftsbewegung (2011) (Zeitgeschichte und Politik; Bd 5), 15 f.
[14] Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung, 10. Sitzung, 24.04.1919,
249 ff.
[15] Anzenberger, Epilog – Die Sozialpartnerschaft und die Arbeiterkammern, in FS 100 Jahre Arbeiterkammer (2020) 209.
[16] Detaillierte Zahlen finden sich in den Tageszeitungen Arbeiterwille, Grazer Volksblatt, Tagespost
vom 27.06. bis 08.07.1926, wo auch das endgültige Ergebnis bekanntgegeben wurde.
[17] § 6 AKG.
[18] Laut OECD sind es 98 Prozent; Anzenberger in FS 100 Jahre Arbeiterkammer, 215.
[19] Optimistischer in der Wertung Schmalz /Dörre (Hrsg.); Comeback der Gewerkschaften? Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektiven (2013) insbes. 345 bis 450 (Arbeitskreis Strategic Unionism; Hans-Jürgen Urban; Wolfgang Uellenberg-van Dawen)
[20] Anzenberger in FS 100 Jahre Arbeiterkammer, 215.
[21] Bereits vorsichtig: Weingarten/Fastabend/Rasch, Working Paper Forschungsförderung: Chancen und Hemmnisse der Einrichtung einer Arbeitskammer in NRW (2018).
[22] Glaser, „Ein langjähriger Wunsch …“ 106 f.
[23] Hanusch, Die Entwicklung der sozialpolitischen Gesetzgebung in Österreich In Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten, 32, Jg., Nr. 45, 15.02.1921.
[24] Marin, Die Paritätische Kommission. Aufgeklärter Technokorporatismus in Österreich (1982).
[25] Vgl. Steigenberger, Sozialpartnerschaft und wirtschaftliche Performance, in Dossier Wirtschaftspolitik (2014) H. 4, 16.
[26] Siehe etwa Lehrbetriebserhebung (§ 2 Abs 6a BAG) oder die Revision der Betriebsratsfonds § 74 Abs 6 ArbVG und § 32 Betriebsratsfonds-VO 1974.
[27] Vgl. Rill/Stolzlechner, Kommentierung Art 120a B-VG, in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (2019). Art 120a B-VG.
[28] Mitgliederbefragung, in: ZAK 2/96, 9. 233; Jahresbericht der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark (1996), 30.
[29] Göhring/Pellar, Anpassung und Widerstand (2001) 183; Glaser, „Ein langjähriger Wunsch …“ 102.
[30] Vgl. Scuto, Chambre de Travail Luxembourg Arbeiterkammer. 75e anniversaire 1924-1999 (1999) 91.
[31] Bachner/Böhmer, Kassenreform genehmigt: Keine Änderung für Versicherte < https://kurier.at/politik/inland/tuerkisblaue-kassenreform-haelt-vor-hoechstgericht/400702668> (13.12.2019).
[32] Art 120 Bundes-Verfassungsgesetz.
[33] Anzenberger in FS 100 Jahre Arbeiterkammer, 215.
[34] Ebda.
[35] § 2 Abs. 4 Arbeiterkammergesetz Saarland.