Meine Familie und ich haben vom Spätherbst 1945 bis zu unserer Auswanderung nach Kanada (Februar 1950) im Lager V in Kapfenberg Unterkunft gefunden. Als wir einzogen war ich 6 Jahre alt. Das ist nun schon lange her, dazu hat leider die Zeit in den vielen Jahren die zwischen damals und heute liegen, viele meiner Erinnerungen verwischt oder sogar ausgelöscht. Trotzdem will ich versuchen aufzuschreiben was ich noch in Erinnerung habe.
Im Juni 1945 als der Viehzug in dem wir aus Slovenien ausgewiesen wurden, endlich Graz erreichte, hauste unsere Familie (meine Eltern, ich und mein Bruder, sowie auch unsere Grosseltern) ein paar Nächte unter einer halb zertrümmerten Mauer auf dem Grazer Hauptbahnhof. Glücklicherweise fand mein Vater kurzerhand durch seinen Bruder einen Arbeitsplatz auf einem Landgut. Leider dauerte die Arbeit nur wärend der Sommer Saison. Als mein Vater von den Lagern die für Flüchtlinge aufgemacht wurden, erfuhr, zogen wir im Herbst ins “Fünfer Lager” in Kapfenberg. Unser Einzug war für uns Kinder mit viel Angst verbunden – wie auf der Flucht gab es wieder ein grosses Gedränge und ein riesiges Durcheinander bis wir endlich in eine Baracke zugewiesen wurden. Wir teilten das Zimmer mit drei anderen Familien. Jede Familie hatte ihre Ecke mit ein oder zwei Etagenbetten. In der Mitte war der kleine Heizofen und ein Tisch mit Bänken. Unsere Bettdecken dienten tagsüber als notdürftige Abschirmungen um private zu sein. In der Nacht wurden die Decken dann zum Zudecken benötigt. Wenn ich mich richtig erinnern kann, hiess es dass über 12 hundert Menschen in den Holzbaracken in unserem Lager untergebracht wurden. Die meisten waren Gottscheer wie wir, aber es gab auch viele Donauschwaben.
Kaum hatten wir die ersten Nächte hinter uns, waren wir auch schon schmerzlich darauf aufmerksam gemacht dass wir unsere Lagerunterkunft nicht nur mit Menschen teilten sondern auch mich zahlreichen Wanzen. Man ging also auf die Jagd und versuchte soviele der Insekten wie möglich jede Nacht zu vernichten. Irgendwann mussten wir uns aber damit abgefunden haben, denn wärend unsereres Aufenthaltes haben uns diese Haustiere nie ganz verlassen .
Unsere Verpflegung war in den Gemeinschaftsküchen vorbereitet und in den Essbaracken ausgeteilt – eine Baracke servierte den Erwachsenen und eine den Kindern. Direkt innherhalb des Zaunes dicht bei den Böhlerwerken hatten uns unsere Vorgänger einen riesigen Haufen grosser Blechkannen hinterlassen. Diese wurden jetzt als unser Geschirr verwendet. Mein Vater hat uns sogar einen Draht als Henkel hinzu gebastelt. Dreimal am Tag stellten wir uns an mit unseren Blecheimerln damit wir unser Essen bekamen. Die Mahlzeit musste dort in der Essbaracke gegessen werden (wenigstens bei uns Kindern). Wir durften erst heraus wenn wir das leere Eimerchen dem Mann an der Tür vorzeigen konnten.
Die Verpflägung bestand meistens aus Suppen mit Gemüse, Bohnen und manchesmal auch Macaroni. Am Sonntag hatten wir sogar Fleisch. Zum Frühstück gab es eine Scheibe Brot, dazu den sogenannten “Kaffee” mit Milch für uns Kinder. Obwohl das Essen im Allgemeinen ganz bekömmlich war, weigerten wir uns doch, wie so viele Kinder heute noch, bestimmte Speisen zu essen. In solchen Situationen gab es für uns nur eine Lösung – spielen -- um sich vom leeren Magen abzulenken. Kinder gab es genug und auch Spiel Möglichkeiten je nach unseren Erfindungen. Das ganze Lager war unser Spielplatz. Wenn wir wandern wollten war da auch noch der Wald in unmittelbarer Nähe.
Unterernährung war ein Problem. Um es zu bewältigen wurde unser Körpergewicht alle paar Monate kontrolliert. Wenn jemand untergewicht war, sollten sie dann drei Wochen auf Erholung gehen. Der Gedanke auf Erholung zu gehen brachte uns grosse Angst – wir müssten ja unsere Eltern verlassen.!! Gott sei Dank, kam es nie dazu. Nach den Erlebnissen auf der Flucht war für mich und meinem Bruder eine Trennung, von unseren Eltern undenkbar. Dass diese Kinder, die wir weinend und kränklich weg gehen sahen, mit roten Pausbäckchen und strahlenden Augen wieder zurück kamen, spielte bei uns keine Rolle.
Meinem Vater als einer der wenigen arbeitsfähigen Männer im Lager wurde die Aufsicht der Holzhütte übertragen. Er musste um die gerechte Verteilung des Brennholzes sorgen. Dieser verantwortungsvolle Posten brachte unserer Familie einen grossen Vorteil – wir bekamen unser eigenes Zimmer! Auch wenn das Zimmer nicht besonders gross war, schätzten wir dieses Privileg sehr.
Nach den ersten Jahren übernahm die Österreichische Regierung die Verwaltung des Lagers. Die Gemeinschaftsküchen wurden aufgehoben denn von nun an sollten wir uns selbst verpflegen. Jetzt waren wir sozusagen Mieter in unserer Lagerwohnung. Mein Vater fand einen Job ausserhalb des Lagers. Unsere Familie hatte nun einen Verdienst und auch Lebensmittelkarten. Wie alle in der Lagergemeinschaft machten auch wir einen Gemüsegarten aus dem ehemaligen Exerzierplatz vor unserer Baracke. Nach den ersten Jahren musste jede leere Ecke irgendwie zum allgemeinen Unterhalt beitragen. Eigentlich fungierte unser Lager mehr und mehr wie ein (ärmliches) Dorf – wir hatten eine Schule nur für die Lagerkinder, eine Baracke die als Kirche diente, und auch eine kleine “Kantine” wo man sich Brot und andere Esswaren kaufen konnte.
Mein Bruder der 2 Jahre jünger war wurde bald nach unserem Einzug im Kindergarten aufgenommen. Ich fing in der Lagerschule in der ersten Klasse an. Zuerst hatten wir nur eine Tafel mit einem Griffel, aber nach der ersten Klasse gab es allmählich auch Lesebücher, Hefte und Bleistifte. Die Verwandten in Übersee schickten Schultaschen und bunte Farbstifte. In der fünften Klasse hatten wir dann sogar eine eigens gedruckte kleine “Zeitung” mit Artikel über Naturkunde und historischen Begebenheiten. Unsere Schule ging bis zur fünften Klasse –als ich in der fünften war, hatten wir eben unsere Papiere zur Auswanderung bekommen, und damit beendete ich dann meine Schulzeit im Lager. Ich habe eigentlich gute Erinnerungen an die Lagerschule – unsere Lehrer waren nett und bemühten sich den Unterricht so gut wie möglich zu gestalten. Einmal gab es sogar einen Ausflug – wohin wir gingen weiss ich nicht mehr, aber das Gefühl dass es ein schönes Erlebniß war, empfinde ich heute noch.
Jeden Sonntag kam ein Priester von St. Marein um mit uns Gottesdienst zu feiern. Die Baracke die als Kirche diente war jeden Sonntag total überfüllt . Für Bänke hatte man in unserer “Kirche” keinen Platz. Jeder der nicht stehen konnte bis der Gottesdienst vorüber war, brachte sich einen Stuhl mit. Der Altar war ein grosses Blumenmeer denn alle wollten beitragen mit den schönsten Blumen aus dem Garten. Beim Gottesdienst wurde viel (und laut) gesungen. Alle waren dankbar dass wir ein Dach über den Kopf hatten sowie auch etwas zum Essen. Wenn auch die Sorgen um die Zukunft für die Erwachsenen schwer zu bewältigen waren, fand man doch im Gebet etwas Trost.
Sobald der Postverkehr nach Übersee wieder anfing war meine Mutter in aktiven Briefwechsel mit unseren Verwandten in Amerika und Kanada. Diese schickten viele Packete mit Lebensmittel und Kleidung. Obwohl wir sehr dankbar waren für ihre Hilfe, war doch die überwiegende Frage in meiner Mutters Briefen wer unsere Bürgschaft für die Einwanderung nach Übersee übernehmen könnte. Meine Tante und Onkel in Alberta, Kanada erklärten sich bereit diese Verantwortung zu akzeptieren, zudem uns auch mit Arbeit und Unterkunft im neuen Land beizustehen. Anfang 1950 war dann alles soweit . Ende Februar verabschiedeten wir uns mit traurigen Herzen von den Verwandten und vielen Bekannten im Lager. Wir hatten keine Ahnung dass wir eine fast drei-wöchige Reise vor uns hatten ehe wir im Westen Kanadas unsere neue Zukunft beginnen konnten.
Helga Graf,
Toronto, Ontario, Canada Januar, 2023
Der folgende Text über das Leben im Lager Lager V in Kapfenberg stammt von Helga Graf aus Toronto, Ontario, Canada und wurde Herrn Trummer im Winter 2022 per Mail übermittelt. Helga stammt ursprünglich aus Kletsch/Gottschee, lebte von November1945 bis Februar 1950 im Lager V, Kapfenberg, Steiermark und wanderte dann nach Kanada aus. Ihren Geburtsort besuchte sie nie wieder, aber da sie mit einem Burgenländer verheiratet ist, besuchte sie Österreich öfters.
Um die Authenzität des Textes zu erhalten, wurden an der von der Verfasserin erfolgten Übersetzung aus dem Englischen keinerlei Änderungen vorgenommen.