I.
Hergeführt hat die beiden Reisenden die Psychologie. Nahezu ausschließlich. Schon wie sie aus dem Zug in Wies gestiegen sind, und der Trainer das Ferrarirote zielstrebig nach Eibiswald dirigieren wollte, war Psychologie von Nöten. Und Charisma. Zuerst, flötete das Ferrarirote, fahren wir ganz ganz gemütlich rauf nach Wielfresen. Und dann nach Unterfresen. Dann sind wir ja gleich auch schon mal in St. Katharina.
Und dann rollen wir, ganz antriebslos, hinunter nach St. Oswald. Da brauchst du gar nix tun, Trainer, sagt das Ferrarirote gütig. Das mach ich alles ganz allein. Arbeitsteilung. Hinunterrollen ist meine absolute Spezialität. Es sei denn, es kommt uns ein kleiner Berg dazwischen.
Und in St. Oswald fädeln wir in die Bundesstraße 69 ein, und schon sind wir auf der Soboth. Nur die Umwege, hat schon Heimito von Doderer gewusst, bringen uns im Leben weiter.
Der Trainer hat eingewilligt. Der tumbe Tor. Vielleicht hat er aber auch nur ein schlechtes Gewissen gehabt, überlegt das Ferrarirote strategisch brillant, weil er mich so lange nicht aus dem Stall geholt hat.
Und er geht’s zügig an, der Trainer. Genießt die Landschaft, selbst wenn er nach der ersten Steigung schon ein bisserl schnaufen muss. Strampelt ja recht ansprechend, findet das Ferrarirote. Und seine Gedanken sind wieder einmal irgendwo, verloren in tiefen, nicht einmal ihm selbst ergründbaren Nebeln. Vielleicht bei den auffliegenden Krähen, dort am Ackerrand?
Nur nicht zu viel denken, denkt das Ferrarirote. Schon gar nicht an den Sport. An den Fußball womöglich, das geht gar nicht. Denn, hat das Ferrarirote längst begriffen, diejenigen, die ständig an den Sport denken, gar noch an den Fußball, sind ganz entschieden die Unsportlichsten.
Wernersdorf, steht da auf der Ortstafel. Wernersdorf. Gar wunderlich greift es dem Trainer ans Herz, wie den Wackenroder bei seinen allerersten romantischen Herzensergießungen. Gar wunderlich und kindheitsverträumt wird ihm da. Wernersdorf. Muss was mit Seelenwanderung zu tun haben, dieses Wernersdorf, vermutet das Ferrrarirote. Irgendwas mit seinem früheren, wie kolportiert ziemlich liederlichen Leben. Ob er die längst fällige Rückführung, die ihm das Ferrarirote schon so lange empfohlen hat, höchst professionell praktiziert von einem federgeschmückten Schamanen, endlich auch machen hat lassen?
II.
Die Reisenden, der eine zerknautscht und zerknittert, das andere bügelfaltenfrei und ferrarirot, stehen vor dem Portal des Benediktinerstiftes St. Paul. Eine beeindruckende Anlage. Im Inneren kann selbst der Trainer, diesmal auch ohne gescheites Buch so erfreulich von Fach, die großartige Romanik erkennen.
Wie denn auch nicht: Die mächtigen Pfeiler streben viele Meter hoch, die prächtigen gekröpften Kapitelle führen zu den spätgotischen Rippen und Bögen. Die Schlusssteine fallen ins Auge, sie sind besonders fein gearbeitet. Nahezu unverfälscht hat sich der mittelalterliche Charakter der dreischiffigen Basilika erhalten, daran können auch die üblichen Barockaltäre nichts ändern.
Ende des 11. Jahrhunderts kam der erste Abt, Wezilo, ins Lavanttal. Mit weiteren zwölf Mönchen, alle aus Hirsau. Eine kleine Kirche haben sie vorgefunden, Mitte des 12. Jahrhunderts begann dann der Bau der Stiftskirche. Ihr architektonischer Wert übertrifft, so die Experten, jenen von Gurk, der Mutterkirche Kärntens.
Über die Jahrhunderte wird St. Paul zum Schatzhaus des Landes. In der Kirche finden sich wertvollste Fresken aus der Spätromanik und Spätgotik. Und, in der Nordostecke des Querhauses, das Spanheimergrab. Die Ruhestätte der frühen Kärntner Herzöge sind geschmückt mit herrlichen gotischen Reliefs aus dem 14. Jahrhundert. Die weiteren Gebäude des Stiftensembles wurden barock an- und ausgebaut.
Das Stift bildete das geistige und ökonomische Zentrum des Lavanttals. Schon seit der Jungsteinzeit bebauten hier Menschen die fruchtbaren Hänge, die Metallvorkommen förderten bescheidenen Wohlstand. Das humanistisch geprägte Christentum entwickelten sie weiter, sie verbanden ihre Transzendenz mit eiserner Arbeitsdisziplin: ora et labora. Und ihre Äbte formulierten Anspruch: An die Decke ihrer umfangreichen Bibliothek ließen sie die beiden Hemisphären abbilden. Prächtige barocke Fresken, angelehnt an jene im päpstlichen Palazzo Farnese in Rom.
Den Platz für das Kloster haben die Mönche gut gewählt. Hier nimmt die Lavant den Granitzbach auf, der, etwas ungestüm und dunkel schmutzig, vom Unwetter der Nacht, herangurgelt. Die im Talgrund bereits gesetzte und ruhig breite Lavant, nicht mehr weit von der Mündung ihres Lebens entfernt, nimmt es gelassen.
Wie die vermutlich erfunde jüdische Großmutter, bei nachsichtiger Gewichtung ihrer eigenen Familiengeschichte, dem verderblich-giftigen Schlamm ihres, leider nicht nur vermutet, sondern sicher missratenen Enkels Adolf Schicklgruber. Dessen willfährige Schergen hat man später, als das Dritte Reich endgültig im Schlamm, nicht nur jenen des Granitzbaches, versunken war, im Internierungslager Wolfsberg, ganz in der Nähe, zusammengefangen.
III.
Es geht bergauf und bergab. Wielfresen, Unterfresen, weiß der Gott, was sonst noch für ein Fresen. Als sie endlich zur Soboth-Passstraße kommen, so nach einer Stunde, fühlt der Trainer in den Beinen deren fünf. So viele Höhenmeter! protzt er. Und die meisten unnötig. Wie hoch werden wir sein, jetzt, über Eibiswald? Dreihundert Meter? Der gute Mann wirkt, stellt das Ferrarirote fest, etwas desillusioniert.
Das Ferrarirote hingegen, immer rational und kühl, kalkuliert mal schnell im Kopf. Von Wies, über diese originelle Route, dem Ferrariroten hat´s wirklich Spaß gemacht, nach St. Oswald, jetzt schnell noch rauf auf die Soboth, dann runter zu den Seen, dann wieder rauf auf den Magdalensberg, eigentlich eh nur ein kleiner Hügel, der wird uns, lieber Trainer, gar nicht auffallen. Na, das ergibt dann, summa summarum, bis Lavamünd? So knapp tausendfünfhundert Höhenmeter. Das wird ja wohl noch drinnen sein, junger Mann!
Früher, als der Trainer noch wirklich gut im Saft war, hätte ihm so eine Ansage nur ein leises Lächeln um die schmalen Lippen gekostet. Nette Challenge, hätte er angriffslustig gesagt. Ein Streichholz, vielleicht, zwischen den Lippen. Das war schon immer cool, so ein Streichholz im Mund. Zeitlos. Unterstreicht die überhebliche nonchalant. Zum Gabelfrühstück sind wir zurück.
Nun aber, in seinem allerbesten Mannesalter, belastet ihn die Aussicht auf die Hunderten Höhenmeter, die er vor sich vermutet, rechnen hat er noch nie so gut können wie das Ferrarirote, doch erheblich.
Mach dir nichts draus, tröstet ihn das Ferrarirote. Und minimiert, geschickt, seine eigene, nicht unmaßgebliche Verantwortung für den, landschaftlich so schönen, aber doch umwegigen Umweg. Da rauf jetzt auf die Soboth, appelliert das Ferrarirote an die Vernunft des Trainers, hier auf der Bundesstraße, ist es ja doch ziemlich gefährlich. Und ein paar Kilometer illegaler Rennstrecke, immerhin, haben wir uns erspart.
Und richtig: In Schräglage ziehen die schwermotorisierten Herrenfahrer vorbei. Was hätte denn so ein Pass auch für einen Sinn, bestünde er nicht nahezu ausschließlich aus Kurven? Und so einem Ferrariroten gönnt man, allerhöchstens, gemessen vom unbefestigten Bankett, zwanzig Zentimeter Schwankungsbreite. Wird ja wohl noch reichen. Inklusive steigungsbedingt instabilem Trainer, selbstredend.
Aber das Ferrarirote behält die Übersicht. Immer schön durchatmen, den Sog ausgleichen, beruhigt es den Trainer. Und nur keinen Fehler machen. So etwas kann tödlich sein.
Denn, heitert das Ferrarirote, mit seinem urtümlichen Humor, den Trainer auf, bei so einem Organspender weiß man ja nie: Will er nur die eigenen Organe spenden, oder doch die deinen, geschätzter Freund? Na na, nur ein kleines Scherzchen. Die deinen nimmt ja keiner mehr, da ist der Restwert zu bescheiden.
IV.
Der Trainer ist ja gar nicht mal so unsportlich, so weit will selbst das Ferrarirote nicht gehen. Aber er braucht halt immer ein bisserl eine Psychologie. Damit er eine halbwegs ansprechende Leistung bringen kann.
In seinem Beruf ist das ja nicht anders: Ist sein Schreibtisch voll, weiß er nicht, wo anfangen. Ganz desperat ist er dann, weil er glaubt, das schafft er nie. Legt man ihm aber nur ein einziges Werkstück vor, einen Aktenband vielleicht, mag er noch so dick sein, dann wird’s schon. Da hat er dann nur ein einziges Teil, auf das er sich konzentrieren kann. Sonst, der ganze Tisch blitzeblank! Nimmt’s behutsam, der Trainer, in die Hände, das gute Teil, fast ein wenig neugierig. Fokussiert. Ist guter Hoffnung, weil das ist ja jetzt recht überschaubar.
Und, schwuppdiwupp, haste es nicht gesehen, ist er fertig. Da muss man ihn dann loben. Brav hast du das gemacht, Trainer. Und so ordentlich. Und so schnell. Und ihm, schwuppdiwupp, gleich die nächste Akte vorlegen.
Und so sagt jetzt das Ferrarirote, ganz schulmedizinisch psychologisch, zum Trainer: Na, fahren wir halt einmal nur rauf bis in das schöne Dörfchen Soboth. Wenn es uns dort gefällt, mein tüchtiges Trainerlein, müssen wir ja heute den Magdalensberg gar nicht mehr machen. Da suchen wir uns einfach ein weiches Bettchen, irgendwo da oben, ein schönes Quartier finden wir immer. Mit Aussicht zu den faulen Slowenern. Und einen Schweinsbraten werden sie da wohl auch noch haben. Nur für dich. Und ein Bierchen, mein Trainer, ein Bierchen, vielleicht mit einem hübschen Schaumkrönchen? Ein Bierchen vielleicht auch?
Da zahlt es sich schon aus, dass das Ferrarirote ein, formal bildungskorrekt geprüftes, Psycholog* ist. Psycholog, mit Sternchen. Geschlechtsundefiniert und damit gendergerecht im Fahrradpass eingetragen. Auf dem zweiten Bildungswege erworben, den Psycholog*. Der zweite Bildungsweg ist in Österreich allermeist der erste.
Und wenn der Trainer wieder einmal in tiefe Zweifel verfällt, ob er nun wirklich eine Alleinstellung in Leben und Gesellschaft genießt, der Krönung der Schöpfung nochmals eine Krone aufsetzt, allein durch seine bloße Existenz, und gar mit seinen unberechtigten Zweifeln in eine veritable Depression fällt, weil er sich selbst in seiner Großartigkeit nicht mehr richtig spürt, muss er für die dann jedenfalls anstehende Therapie nicht mehr aus dem Haus. Die Axt …
V.
Chapeau! Chapeau, denkt das Ferrarirote anerkennend, sagt es aber nicht. Weil noch überheblicher ist der Trainer wirklich nicht zu verputzen. Aber, Anerkennung, wenn sie wirklich verdient ist, muss sein. Das weiß das Ferrarirote. Ausgefuchster Psycholog, mit Sternderl halt. Richtig brav ist er herübergezogen, der Trainer, da über die Soboth, befindet das Ferrarirote Psycholog, und den Magdalensberg, über den auch. Die paar unbeholfenen Schlangenlinien, in den letzten Steigungen, wollen wir ihm nachsehen.
In Lavamünd, im Sitzgarten eines kleinen Cafés, sind die Organspender dann alle schon da. Überraschend schlanke drahtige Gestalten, stellt der Trainer wertschätzend fest. Keine Spur von Hells Angels. Fast schon grazil, italienisches Design. Und alle haben sie die Farben ihres Landes an ihre Bikes geschraubt. Und im Gesicht sowieso.
Der Trainer erhebt sich verstohlen. Er streckt, erstmals seit er erschöpft in den Sessel gesunken war, sein Kreuz durch. Ein leiser, zischender Laut zieht durch das Café. So ein Durchstrecken nach einer Durststrecke geht halt selten ohne Stöhnen. Dann folgt der Trainer einem der Tifosis auf´s WC. Der macht sich jetzt frisch, der Trainer, und denkt sich dabei nichts. Naja, kann das Ferrarirote einmal auch großzügig sein, hat er sich verdient.
Und dann kommt er zurück. Der Trainer. Die Brust prominentest in den Raum geworfen, die Schultern gestrafft, die flinken Hände jederzeit bereit, seinem Recht Sturmbann zu verschaffen. Wie die Konsumenten eines Westernfilms, denkt das Ferrarirote, wenn sie grimmig das Kino verlassen.
Warum nur? Warum denn nur? Das Ferrarirote rechtet mit dieser Welt. Und mit seinem eigenen Leben, verschwendet an der Seite dieser Peinlichkeit vom Trainer, sowieso. Warum muss man sich, mit dem, immer so viel fremdschämen?
Eine Fahne hat er im Gesicht, dass die Hälfte reicht. Nein, nicht vom Bier. Weil, trinken darf er ja nicht, der Trainer, beim Radeln. Da ist das Ferrarirote konsequent. Weil, wenn der stürzt, der Trainer, verletzt es sich womöglich, nämlich das Ferrarirote, die hochwertige Gangschaltung. Und das steht nun wirklich nicht dafür.
Das ist die spanische, sagt der Trainer stolz. Der freundliche Motorradfahrer hat mir sein Schminkset geborgt. Die Fahne vom Trainer, allerdings, fällt dem Ferrariroten auf, ist ein wenig verzogen. Von der kleinen, liebenswerten Falte, die neuerdings vom Auge etwas in die Wange zieht. Er ist halt kein zweiundzwanzigjähriges, glattwangiges Ballesterluder, stellt das Ferrariote seufzend fest.
Warum die spanische? Jetzt muss das Ferrarirote, einmal wirklich tief und fest, nachdenken. Die spanische Flagge, das ist doch ein breiter gelber Streifen? Und darüber, und darunter, noch ein schmalerer roter. Aber der Trainer kann seine Genialität ohnehin nicht für sich behalten. Und er erklärt stolz: Das sind die Farben der spanischen Republik. Diese Farben da, hebt er pathetisch die Stimme, haben sie verteidigt, die internationalen Brigaden.
Gegen die Franco-Putschisten. Und die Monarchisten auch. Diese Farben wehen heute noch auf dem Grab meines geliebten Antonio! Antonio Machado. Wie der Lorca ein andalusischer Poet. Nur ein paar Schritte über die französische Grenze hat er noch geschafft, doziert der Trainer. Den Schergen der Falange ist er entwischt, aber die Erschöpfung hat ihn dahingerafft.
Na, wer weiß, philosophiert der Trainer, wofür das gut war. Hat er sich die Reise durch die französischen und nationalsozialistischen Lager, den Spaniernkämpfern von den Faschisten zugedacht, erspart. Ist ja doch ein Herzerl, mein Trainer. Ein Lebenskünstler. Always look on the bright side of life!
VI.
Und, weil jetzt, in diesen großen Zeiten des großen Ringens der großen europäischen Völker, der großen Meisterschaft um den großen europäischen Pokal, jeder sein Statement abgeben darf, sagt der Trainer, im Brustton seiner untadeligsten demokratisch-europäischen Überzeugung, ist das jetzt mein Statement. Spanische Republik! Basta.
Nur das Ferrarirote, muss ja sonst keiner wissen, weiß, dass der Trainer im Grunde seines Herzens ein Pharisäer ist. Nicht müde wird er, zu betonen, dass er bei der Europameisterschaft immer gewinnt. Weil, so der Blitzgneißer, im Finale gewinnen immer die Europäer. Geht ja gar nicht anders.
Aber, ganz in der letzten, dunkelsten Ecke seiner schwarzbefleckten Seele, wuchern die Sentimentalitäten. Wie in den Seelen aller anderen im Übrigen auch, nur, dass diese Seelen wesentlich weißer sind.
Und die verborgenen Sentimentalitäten des Trainers neigen sich nun mal zu den Franzosen. Die Begründung? Abenteuerlich. Sonst wär’s ja nicht der Trainer. Weil ich die Sprache so mag, behauptet er. Die ist so melodiös. Wie die Musik vom Mendelssohn. Geradezu zärtlich. Was daran zärtlich sein soll, wenn die Urgewalt Paul Pogba nach dem Ball grätscht, hat dem Ferrariroten noch nie jemand schlüssig erklären können.
Und vor den Franzosen waren´s die Schweden. Das war 1974. Bei der Weltmeisterschaft. Die Schweden also, kann heut auch keiner mehr verstehen. Nicht nur, weil die so liberal waren, hat der Trainer ihnen sein junges Herz geschenkt, den Schweden. Oder weil die schwedische Brieffreundin im fernen Göteborg dem heranwachsenden Trainerlein die allerschönsten Hefterln mit den allerschönsten, nicht gar so arg bekleideten blonden schwedischen Maiden geschickt hat. Alter Schwede, die waren gar nicht prüde! Zumindest nicht so prüde, wie sie jetzt wieder sind.
Sondern weil die Schweden, allerwertvollster Beitrag zur weltumfassenden Humanitas und Zivilisation, den Hellström gehabt haben.
Da hat der kleine Trainer, der damals noch gar nicht so viel trainiert hat, weil er so klein war, den Schweden auch nicht nachgetragen, dass die zuvor die Österreicher aus der Qualifikation geworfen haben. In Gelsenkirchen. Wieder einmal ging eine Abwehrschlacht verloren, und wieder einmal so, so unglücklich! Keine Abwehrschlacht der Österreicher, soweit man in der Geschichte auch blickt, die nicht unglücklich verlaufen wäre. Und so ungerecht.
Damals, in Gelsenkirchen, möglicherweise deshalb, weil es so bitterkalt war. Damit haben die Nordmänner besser umgehen können. Klimavorteil. Das Schneegestöber hat noch mehr geflimmert als der alte Fernseher.
Der Ronnie Hellström, das war der Tormann der Schweden. Wie gut der die Bälle fangen hat können. Der tollkühne Svenska trollkarl! Eine blondschwedische Hexenspinne aus dem republikanisch lauteren Kaiserslautern. Also, hat der Trainer damals beschlossen, wird er selbst auch Tormann.
Die Position beim Fußballspielen ist ja eher wurscht. Hauptsache berühmt. Nur, leider, hat der Trainer die Bälle nicht ganz so gut berechnen und fangen können wie der Hellström. Das hätte, für die überkritischen Talentescouts, nicht einmal für die Starauswahl des Weißen Lammes im grünen Kranze, nahe der Schnitzelhuberkurve vor dem Präbichl, gereicht. Ja, muss man zugeben, nicht einmal fürs Aral-Stüberl in Leoben-Lerchenfeld.
Da war er damals, der Trainer, rechnet das Ferrariorte sofort nach, wie gut das doch rechnet, das Ferrarirote! zwölf Jahre alt. An sich ein idealer Zeitpunkt, die Karriere als aktiv-passiver Fußballfan an den Nagel zu hängen. Zeitenwende, so am Beginn der Pubertät. Da kann man noch was anderes machen, im Leben.
Die schwedische Fahne hätte er sich also auch aufmalen können, der Trainer. Am Klo von Lavamünd. Im Gesicht, über der neuen Falte, hätte sie allerdings eine ähnliche Wirkung entfaltet wie der Danebrogh, die älteste Fahne der Welt. Warum also nicht die? Macht doch mehr Sinn, überlegt das Ferrarirote. Die Dänen sind immerhin noch dabei, wenn sie nicht demnächst ausgeschieden sein werden.
Also, geh´s an, Trainer! Nochmals aufs Klo. Weißes Kreuz auf rotem Grund, das ist sicher schicker und zeitgemäßer als die lächerlichen drei Kronen der Schweden, ohnehin notorische Loser.
Oder doch ein blaues Kreuz auf weißem Grund? Oder ein blaues Kreuz auf rotem Grund? Bei den Skandinaviern, ist jetzt einmal das Ferrarirote richtig chauvinistisch geschichtsbewusst, ist das doch eh völlig egal. Die waren immer irgendwie zusammen, dann wieder auseinander, dann wieder zusammen. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Weiß doch jeder.
Oder wir nehmen überhaupt ein schwarzes? Ist doch immer die passendste Farbe, für ein Kreuz. Das werden nun noch, und das Ferrarirote blickt, etwas verlegen, zum Trainer, so an die zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre sein. Bis zum Ende. Ich mein, kalkuliert das Ferrarirote nüchtern, so nach der gängigen Sterbetafel. Und was ist schon Zeit?
VII.
Gute elf Kilometer sind’s dann noch gewesen, nach St. Paul. An der wasserreichen Lavant, inklusive Granitzbach. Und im Stift hat der Trainer jetzt endlich seinen Rundgang beendet. Oh mon Dieu, seufzt das Ferrarirote. Und erinnert sich an Paul Pogba, und dessen leidvolles Tackling. Das hat jetzt aber gedauert!
Aber ja, viel hat er wieder einmal lernen dürfen, der Trainer. Zu alledem, was er ohnehin schon immer gewusst hat.
Das Adelheidkreuz hat er sehen dürfen. Und eine Ausstellung. Wie sehr doch die Menschheit seit Jahrtausenden an den verschiedensten Seuchen gelitten hat! An der Lepra. An der Pest. Und jetzt haben wir auch noch die Corona. Vielleicht wär´s besser gewesen, sie wäre auf den Bäumen geblieben, die Menschheit. Seuche? Dort oben, in guter Luft, von Ast zu Ast? Unbekannt.
Das Ferrarirote scharrt in den Fußrastern. Würden seine Fußraster doch nur bis zum Boden reichen, dann könnte es endlich wegdüsen. Aber, so oder so, nix wird es mit der Abreise. Denn dem Trainer ist, wieder einmal, irgendwas eingefallen. Die Habsburger. Eine ihrer bedeutendsten Grablegen befindet sich hier. Und seine alle und jeden beherrschenden Habsburger, die liebt der Trainer halt so sehr. Besonders, weil sie tot sind.
Also, wieder zurück in die Stiftskirche. Im nördlichen Seitenschiff ist in die Wand ein mächtiger Epitaph eingelassen. Er zeigt die Wappen der angesammelten Erblanden. Die Gebeine der frühen Habsburger-Dynastie, die unverwüstlichen Reste und die jüngste Frucht ihres vielgerühmten fruchtbaren Schoßes Karl, ruhen allerdings unter dem Hauptaltar.
Der Ahnherr selbst, der nicht. Den Rudolf von Habsburg, das arme Gräflein, der allererste dieser beeindruckenden Linie von Königen und Kaisern, nur wenige Jahrzehnte unterbrochen, über sechshundertfünfzig Jahre lang, liegt im Dom von Speyer.
Da hin nach Speyer ist er selbst noch, bereits als Todkranker, hingeritten. Das war er sich und seinem Status schuldig. In Speyer hat man alle mittelalterlichen Könige und Kaiser des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation die Wohltat der letzten Ruhe als Abschiedsbonus eingeräumt. Manche von ihnen hätten sich diese Ruhe, auch zur Beruhigung ihrer Zeitgenossen, durchaus bereits zu Lebzeiten verdient.
So viel Durchhaltevermögen, nur um dem ewigen Ruhme entgegen zu reiten, und dann entgegen zu modern, anerkennt selbst das Ferrarirote. Interessiert lugt es durch das Kirchentor. Wir wissen: Hunde und Ferrarirote…
Wenn man, wie der sendungsbewusste Rudolf, schon im Leben wenig Zeit für seine Familie hatte – die Pflichten, die Pflichten! – warum sollte das im Tode anders sein? Der Trainer aber, sinnend auf den Epitaph im Kirchenraum blickend, denkt an anderes. Nämlich, dass der Rudolf Habsburg gerade deshalb gewählt wurde, weil er so wenig Hausmacht hatte. Der, so dachten seine mächtigeren Fürstenkollegen kann doch keinem von ihnen wirklich gefährlich werden. Ein Notnagel.
Haben wir den wirklich Not gehabt? überlegt der Trainer in seinen, offenbar selbst duch die zahlreichen Therapien des Ferrariroten Psycholog* nicht überwindbaren Ressentiments. Wäre der Rudolf, doch ziemlich überraschend, nicht siegreich geblieben, mit seinem Reichsheer, gegen den anmaßenden, weil viel mächtigeren Ottokar Přemysl, seinerzeit, 1278, in der Schlacht von Dürnkrut, wie wäre die Geschichte dann verlaufen? Und er selbst, der Rudolf, und nicht er, der Ottokar, in den Schlamm gesunken, bei Dürnkrut?
Wie sähe Europa dann heute aus? Hätten bei anderem Ausgang dieser brutalen Ritterschlacht all die feschen Girls, rund um St. Paul, und die aus St. Stefan, aber auch die aus dem fernen Bregenzerwald, und überhaupt alle rot-weiß-roten Fußballexpertinnen bei der letzten, längst fälligen Niederlage, zur Abwechslung wieder mal gegen Italien, nicht mit rot-weiß-roten, sondern vielleicht mit rot-weiß-blauen Fähnchen gewedelt? Nämlich mit den tschechischen? Eine Finalstufe höher immerhin, wär’s unter böhmischer, tschechischer deutscher, Farbe gegangen.
VIII.
Oder, die heimattreue Lavantfurche wäre, im Laufe der Jahrhunderte, überhaupt nach Süden abgedriftet? Gut möglich wär´s gewesen. Schon immer haben die lavantinischen Bischöfe von St. Andrä mit den, national so unzuverlässigen, Slowenen konspiriert. Weil diese angeblich viel rechtgläubiger waren als die strammen Deutschnationalen in den sündigen Weltstädten Klagenfurt und Villach.
Ja, was sollte man den schon tun, als strammer Deutschnationaler, wenn der Papst das Episkopat Lavant provokant von St. Andrä nach Ljubljana verlegt? Richtig: Das Lavanttal ethnisch von Slowenern säubern. Ab, über die Karawanken!
Eine solche Schmach, mittels kirchentechnischem Winkelzug, kann man wohl nur mit der Zumutung vergleichen, dass der eigene gottgesalbte Kärntner Herzog jahrhundertelang, eine Talfurche weiter westlich, am Herzogstuhl, inmitten des Zollfelds, in windischer Sprache seinen Schwur auf Land und Volk leisten musste. Da brauchte es dann schon einen weltweit als verhaltensauffällig bekannten Landeshauptmann, einen begnadeten Trinker auf Rädern, um diese optische Peinlichkeit ins rechte Licht zu rücken.
Die Windischen, hat der historisch wie philologisch sattelfeste Landeshauptmann, einmal weg und einmal da, völlig nachvollziehbar erklären können, sind ja eigentlich Deutsche. Die Urdeutschesten der urdeutschen Kärntner. In Sprache und Kultur, freilich, etwas heruntergekommen. Versumpfte Urkarantanen, quasi.
Wie gut war es da, dass sie alle zusammen, die heimattreuen Kärntner, so opferbereit den Abwehrkampf gekämpft haben. Für eine Grenze, die das Blut geradezu schreiben musste! Denn wäre auch dieser Abwehrkampf erfolglos geblieben – so unglücklich, so unglücklich! – wären die stolz deutschen Lavantiner, all dies Volk hier rund um das schöne Stift St. Paul, heute, womöglich Slowener. Hätten absteigen müssen, die Urkarantanen, im Ranking der Nationen. In die Unterliga. In die Gebietsliga-Süd.
IX.
Das Ferrarirote lugt, immer besorgter, durch das Kirchentor. Der Trainer schwankt. In seinem, fußballzersetzten Hirn springen die Neuronen von einem Jahrhundert ins andere. Flink wie die Elektronen im Server der NASA. Nur, dass die das wesentlich besser können.
Tief zurück ist er nun wieder getaucht, der Trainer, auf seiner geistigen Hochschaubahn. Zu den Anfängen der großmächtigen apostolischen Sendung der Habsburger. Hätten sie sich doch nur, die glücklichen Parvenüs, so aufgeführt, in ihrem Stammland, im deutschen Westen! Wären sie doch einfach, zufrieden und bescheiden geblieben, wo sie doch so unverhofft Österreich und die Steiermark kassieren haben dürfen.
Hätten sie doch nur die Geduld ihres braven und charakterstarken Bergvolkes um den Vierwaldstättersee nicht gar so unerträglich strapaziert! Mit ihren verhaltensauffälligen Landvögten. Und ihrem unnötigen Hutgrüßenlassen, an erigierter Latte. Und ihrem, ebenso sinnlosen wie gefährlichen, Apfelkopfarmbrustschießen.
Warum sie alle provozieren, die guten Leute? Den Kuoni, den alphornblasenden rechtschaffenen Hirten? Oder den Stüssi, seines Zeichens hegender Flurschütz? Oder den Wilhelm Tell, den dramatischen Empathieker? Lernen die Österreicher nichts aus der Geschichte? Nicht einmal beim Schnapsen?
Vom trefflichen Winkelried, dem Helden von Morgarten, ganz zu schweigen! Was hätte der schon anderes tun können, in seiner opferbereiten Liebe zur werdenden Schweiz, als sich die scharfen Lanzen der habsburgischen Landsknechte und Marodeure in die Brust zu jagen? Sodass ihm die Spitzen herausragten, aus dem heldenmütigen, ungebeugten Rücken? Das nenne man Aufopferung! Da kann sich jeder hochbezahlte, aber zuweilen überraschend leistungsunwilliger Fußballer, zumal in der ausklingenden Verlängerung, ein Beispiel nehmen.
An der Wiege jeder Nation steht das Ritual. Warum sollten da die Eidgenossen, im Rausche ihres Schweizer Eidesbundfestes am ersten August, da anders sein? Nur, weil sie nicht in der EU sind? Aber trotzdem deren Vorteile genießen?
Erst das mutige Brustschwimmen durch den dornenkronengleichen Lanzenwald der habsburgischen Reaktion hat die Urfreiheit des Volkes wiederhergestellt. Vielleicht auch Stabilität und Sicherheit. Nicht nur jene des Landes, freilich, sondern, in der Endbetrachtung, auch jene der weltweit geschätzten Schweizer Banken.
Damals haben sie sich, die vermessenen Habsburger, kann jetzt auch das Ferrarirote die Gedanken des Trainers nachvollziehen, die letzte Chance verbaut. Nämlich ihre Hofburg nicht an der Wien, sondern vielleicht doch an der Aare zu bauen, nicht unweit der Furt Hab, ungefähr dort, wo sich der freiheitssuchende Habicht niedergelassen.
Doch halt! Führte man diese verwegenen trainerlichen Gedanken zu Ende, wären die Steirer, die Österreicher ob und unter der Enns, die Kärntner und die Tiroler, heute, womöglich – horribile dictu! – so etwas wie Schweizer? Grässlicher Gedanke. Auch wenn wir alle so eine Runde weitergekommen wären.
X.
Und der Trainer, in seinem Rausche, spielt weiter, das große Spiel des Waswärewenn. Hätte hätte Fahrradkette! Was wäre, hätten sich die österreichischen Fußsoldaten, mit ihren hübschen Tornistern und ihren gebrochenen Mittelfußknochen, vom vielen Marschieren, nicht so unerbittlich tapfer gewehrt, gegen den anmarschierenden Napoleon? Und dessen unerhörten Anmaßungen. Aufklärung? Menschen- und Bürgerrechte? Bürgerliches Gesetzbuch? Was soll der Schmafu?
Dann bliebe Tirol bis heute den frankophilen Bayern ausgeliefert. Und das gesamte säkularisierte Salzburg sowieso. Oh, unsere Salzburger! Die waren gar nicht amused, als sie im Wiener Kongress 1814/15 endgültig angeschlossen wurden an das schwarzgelbe, dann rot-weiß-rote Reich. Nur ein paar von ihnen ist es gelungen, diesem unzumutbaren Schicksal zu entkommen. Was haben dagegen doch die Berchtesgadener für ein Glück gehabt! Mit ihrem Sepp Herberger, mit ihrem Helmut Schön, mit ihrem Franz Beckenbauer und mit ihrem Joachim Löw haben sie, später dann, vier Weltmeistertitel feiern dürfen. Und was blieb ihren amputierten Nachbarn im Lungau und in Zauchensee-Wagrain? Erraten. Der Erwin Resch, der Hermann Mayer, der Marcel Hirscher.
Wäre nur die Geschichte etwas glücklicher verlaufen, könnten die vielen Innsbrucker und Salzburger, ja vielleicht gar die Grazer, sogar Champions-League-Finali als vollwertig legitimierte Einheimische, beiwohnen. Und hätten die Peinlichkeit nicht notwendig, ihre Tiroler, Salzburger und steirischen Trachtenjanker mit prestigeträchtigen Schals aus dem geschäftstüchtigen Merchandising von Bayern-München zu camouflieren.
Und überhaupt, Bayern-München? Wär` heute vielleicht ähnlich unbekannt wie Wacker Innsbruck. Hätte der Wittelsbacher sein Bayern, wie ihm der listige Nachbar Josef II. vorgeschlagen hat, gegen die reicheren österreichischen Niederlanden getauscht, wär´s heute vielleicht nichts mit dem Hype von Bayern-München.
Denn vielleicht hätte der noch listigere Wittelsbacher – weil, so schlau wie du bin ich schon lang! – zwar die österreichischen Niederlanden gerne mit Dank eingesteckt, aber dann sein liebgewonnenes Bayern, womöglich die für jeden Treuebruch zu habenden Franzosen stärkend im Rücken, gar nicht herausgegeben? Sondern allenfalls, als Trostpreis für spätere Zeiten, für den tumben Franz Josef, eine magersüchtige Prinzessin versprochen?
Dann würden die Tiroler und Salzburger und Grazer Bayern-Fans, mit ihren hübschen Bayern-Schals, die ihren Trachtenjanker längst gegen hübsche, die prächtigen biergeformten Körper so vorteilhaft würdigenden Trikots eingetauscht haben, gar nicht nach München, sondern zu ihren Schicksalsspielen nach Brüssel oder Antwerpen pilgern. Weil´s dort dem Wittelsbacher Kurfürsten angenehmer gewesen wäre? Und spannender? Und überhaupt, französischer. Bayern-München? Nebbich. Bavière-Bruxelles!
Der physische Zustand des Trainers, mehr noch als dessen Visionen, macht dem Ferrariroten Angst. Der Trainer scheint mitgenommen. Er schwankt. Jetzt alles Italiener. Und nicht nur die hilfs- und schminkbereiten im Café von Lavamünd.
Ohnehin alles Opportunisten, die Italiener. Das weiß doch jedes Kind, und zwar aus der Geschichte. Für jeden Verrat sind die zu haben. Was also, wäre es denen tatsächlich gelungen, die Cavernen und Bunker der Karnischen Alpen oder der Dolomiten im Ersten Weltkrieg zu durchbrechen? Ja, gar herauf zu marschieren durch das Isonzo-Tal nach Klagenfurt und Graz. Womöglich gar bis Wien? Im Salonwagen, gleich nach der unkomfortablen, aber zweckdienlichen Holzklasse des siegreichen Kanonenfutters, der hochberühmte Geograf und Philologe Ettore Tolomei?
In Windeseile hätte der gute Mann wissenschaftlichst bewiesen, dass der Hochschwab, heiliger Berg der Steirer, schon immer Suevo alto geheißen hat. Und nur zurückübersetzt werden musste, aus dem usurpatorischen Deutschen. Prontuario, heißt das Zauberwort! Und den Schneeberg, den Monte della Neve, den kennt doch jeder? Von dem haben schon die alten Römer, während der allerdrückensten Hundstage im August geträumt. Sehnsuchtsort.
Dann hätte wohl auch der so menschenfreundliche Präsident Wilson, diesmal ohne unnötige bürokratische Hindernisse wie Sprach- und Kulturerhebungskommissionen, sofort und menschenfreundlich erkannt, dass die, bereits seit prähistorischen Zeiten autochthone italienische Bevölkerung im Salzatal, im Höllental, auf den Höhen des Arlbergs ebenso wie an den Abhängen des Rosaliengebirges, ja, auch an den Gestaden des Neusiedlersees – die armen Menschen dort! Fast hätten sie, wäre das Schicksal nicht so gnädig gewesen, mit den autoritätsafinen Ungarn jubeln müssen! – endlich erlöst werden müssen. Endlich Selbstbestimmungsrecht. Erlösung. Diesmal Erlösung, vom germanisch-barbarischen Joch. Freiheit allen Terre irredente!
Von San Remo bis zur Thaya
und vom Lech bis nach Tarent
Italia, Italia, über alles
über alles …
Hätte aber auch sein Gutes, ein solcher Verlauf der Geschichte, durchfährt es da den Trainer. Vielleicht die allerletzte Chance, dass sich auch einmal ein Lavanttaler als Fußball-Welteuropameister fühlen darf.
Dazu bräuchte man nicht einmal das Wembley, am Sonntag. So oft hätte der Lavanttaler schon jubeln dürfen. 1960 als Europameister. Und gar viermal wäre er Weltmeister geworden. Man braucht sich gar nicht immer an die breite Brust der Deutschen werfen! Die schmale der Italiener tut’s auch.
Hätte dieser Blitz der Erkenntnis, vermutlich ferrarirot, den Trainer bereits ein paar Stunden zuvor, am Klo von Lavamünd, getroffen, er hätte sich selbstverständlich die italienischen Farben ins Gesicht malen lassen. Rot und weiß und grün. So bunt und so erfolgreich! Zart aufgetragen, vom zukünftigen, jedenfalls legitimierten Fußballmeister, Signore Motorradfahrer. Organspender nennt ihn nur das Ferrarirote.
XI.
Ach ja, das Ferrarirote! Das gibt’s auch noch. Ganz benommen lehnt es mittlerweile am Kirchentor, heftig an den metaphysischen Transfigurationen des Trainers leidend. Vielleicht doch ein Kandidat, das inspirierende Ferrarirote, für die Seligsprechung?
Und lange nicht genug! Eine Vision steigt noch auf. Eine allerletzte, hoffentlich. Was wäre gewesen? Erwägt der Trainer den allerkühnsten Gedanken. Was wäre, wenn 1492 nicht die Europäer Amerika entdeckt hätten. Und erobert. Und ausgebeutet. Und erniedrigt. Und versklavt? Sondern die Indios Europa?
Und die Europäer nicht nur ausgebeutet und versklavt, sondern vielleicht auch die blütenfrischen Kärntner Jungfrauen, sollte es die je gegeben haben, geopfert? Mit einem probaten Steinmesserherzschnitt, auf einem der Gipfeln der Saualm? Ihrem fußballrunden Sonnengott? Oder doch, vielleicht, einen hübsch geformten flaumbehaarten Jüngling? Ihrer fußballrunden Sonnengöttin? Weil auch diese zauberhaften Raubwesen aus dem fernen Westen über Jahrhunderte erkannt haben könnten, dass formale Gleichheit gedankenlose Grausamkeit nicht ausschließt?
Ja dann, wären die Lavanttaler – zwar Bürger zweiter Klasse, aber die jubeln bekanntlich immer am lautesten – vielleicht endlich Weltmeister geworden. Wenn auch, wahrscheinlich, vielleicht gar in ihrer weltberühmten Wolfsberger Lavantal-Arena. Freilich, vermutlich hätte die gar nicht so geheißen. Sondern Santiago Bernabéu, oder einfach nur Tipilikaktu.
Und gebrüllt hätten sie, die Lavanttaler, vor Begeisterung. Wenn die Índio-Seleção niedergekniet wäre, mit dem Pokal in den Händen, und den heiligen Rasen geküsst hätte. Gleich hinter dem sauber gehaltenen Tor der siegreichen heimattreuen Mannschaft. Und voll demütiger Dankbarkeit ihre Blicke nach Osten gelenkt hätten, die siegreichen Sonnenkinder, wo die gnädige Sonnengöttin gerade untergegangen wäre. Über der Koralpe, im Osten, weil diese siegreiche rotbraune Rasse selbstverständlich die bislang geltenden Himmelsrichtungen unbenannt hätte. Alles kann man diesen Primitiven, denen man die Kultur hat bringen dürfen, nun doch nicht durchgehen lassen!
Seleção! Seleção! hätten die Lavanttaler geschrien. Wie ein Mann. Oder eine Frau, Seleção! Hexa, Hexa! Ein sechstes Mal noch. Hexa, zum Ruhme des Lavanttales!
XII.
Jetzt will das Ferrarirote nur noch heim. Und auf keinen Fall in irgendein Reich. Sondern einfach nur in seinen Stall. Ganz zernichtet ist es, vom Fatalismus der Geschichte. Und der Fußballgeschichte, von der sowieso.
Irgendwie, denkt das Ferrarirote lästerlich, fast schon blasphemisch, muss dieser Gott ja doch würfeln. Und nicht einmal mit gezinkten, bleiverlasteten Würfeln. Wie seinerzeit der Trainer in seinen liederlichsten Zeiten, in den Hinterzimmern der Grazer Spelunken. Das Messer mit der langen Klinge, die ersten Zentimeter vorne kunstvoll geschliffen, im Hosenbund. Weil, das war modern. Weil, eine menschliche Haut bietet nicht viel weniger Wiederstand als eine Baumrinde.
Und wenn man schon würfelt, Weltenrichter, und das Ferrarirote richtet seinen Blick auf das prächtige Tympanon über dem Kirchentor, dann bitte doch so, dass man beim entscheidenden Einsatz auch gewinnt! Dilettant. Da ist ja der Fußball noch zuverlässiger. Auf dem heiligsten aller Rasen gewinnt immer die bessere Mannschaft. Es sei denn, sie spielt in einem türkisen Trikot. Weil, wird der Aufmacher in der Kleinen Zeitung übermorgen schreiben, nur wer in weißen Trikots spielt, kann gewinnen. Oder man heißt Italien.
Oder aber, keine der zwei Mannschaften trägt weiß. Und die Mannschaften heißen Roter Stern Belgrad und Dinamo Zagreb. Dann gewinnt keines der zwei Teams. Dann gewinnt das Publikum. Das läuft dann, wahrheits- und gerechtigkeitssuchend, auf das Spielfeld. Und verprügelt sich. Und wenn man dann auch noch den 13. Mai 1990 schreibt, dann beginnt der Krieg. Die Fortsetzung des Fußballs. Mit anderen Mitteln halt.
Also aufgesessen, Trainer. Angetreten! Rauf die Lavant bis zum Obdacher Sattel, dann nach Zeltweg, und die Mur runter nach Bruck. Oder, das Ferrarirote blickt ein wenig zweifelnd auf die schwer beanspruchten Storchenbeine des Trainers, doch, wesentlich bequemer, mit der S-Bahn nach Klagenfurt und mit dem Railjet in die Steiermark. Ich will nur noch eines, seufzt das Ferrarirote. Heimat! Meinen Stall. Sicherheit. Geborgenheit. Auch so etwas, vielleicht, wie Nation?