Das Ferrarirote ist unausgelastet. Der Radweg von Bruck an der Mur über St. Dionysen und Proleb hat es wenig gefordert. Der Trainer, gut drauf, dreht mit ihm eine Ehrenrunde durch Leoben. Nostalgie und Sentimentalität drücken bemerkenswert auf die Pedale, der Trainer schaut mit verklärten Augen durch die Gegend. Ist ja doch nah am Wasser gebaut, weiß das Ferrarirote schon längst.
Vom alten Mautturm, Schwammerlturm, ob seiner auffälligen Haube, kann man sehr gut die planmäßige Anlage der Stadt erkennen. Ottokar Přemysl, der städtefreundliche Böhmerkönig, hat den ersten Markt, Liubina, unter dem Massenberg und um die Kirche St. Jakob, in die enge Murschleife verlegt. Von drei Himmelsrichtungen war Leoben nun zusätzlich von der Mur geschützt. Im Süden baute man ein besonders starkes Bollwerk mit Wassergraben, heute das Glacis und der Stadtpark. Das mächtige Jakobstor steht nicht mehr.
Hier. Hier! erklärt der Trainer dem Ferrariroten mit großer Geste, als sei es sein Stammhalter und Lehenserbe, bin ich aufgewachsen. In der Gebietskrankenkasse. Gleich gegenüber dem Eggenwald‘schen Gartenhaus. In meiner Kindheit war es das Wohnhaus des Stadtgärtners, jetzt ist es wieder, historisch stimmig, hergerichtet. Dort wurde der Vorfriede von Leoben-Göß geschlossen, 1797, nachdem der General Napoleon Bonaparte vom Häuselberg die Stadt beschossen und dann eingenommen hatte.
Im nachfolgenden Frieden von Campoformio hat Österreich zwar die Lombardei und seinen Teil der Niederlande verloren, ist aber insgesamt so schlecht nicht ausgestiegen. Große Teile von Venezien wurden den Habsburgischen Erblanden angeschlossen, nachdem Bonaparte der tausendjährigen Stadtrepublik Venedig Monate zuvor den Garaus gemacht hatte.
Wir hatten viel Freiraum, in unserer Kindheit, erzählt der Trainer. Die Gebietskrankenkasse, heute Gesundheitskasse und völlig neu gebaut, hatte einen kleinen Park, in dem man wunderbar Fußball spielen konnte. Und durch ein Loch im Zaun ging es gleich auf den städtischen Spielplatz, dann weiter auf das Glacis. Ein paar Meter weiter dann nur noch Gärten und Wälder. Das vierspurige Straßenband, das heute von Lerchenfeld nach Donawitz zieht, gab es damals noch nicht.
Die üblichen Heimstunden hab ich bei der Katholischen Studierenden Jugend, KSJ, im nahen St. Jakob absolviert, plaudert der Trainer über seine frühe Sozialisierung. Keine Roten Falken? Das Ferrarirote wird misstrauisch. Nicht, dass der Trainer, offensichtlich ideologisch unzureichend gefestigt und ohne politische oder religiöse Berührungsängste, gar noch sein wunderschönes Feuerblitzrot umlackieren lässt! Und gegen ein mattes Schwarz oder, allergrässlichste Vorstellung! gegen ein schlamm-trübes Türkis eintauscht!
Von der Kirche St. Jakob geht’s lustig ein paar Höhenmeter abwärts, zum Hauptplatz. Wohl einer der schönsten Stadtplätze des Landes, wenn auch, leider, mit dem „Durchbruch“ zur Franz-Josef-Straße, einer breit angelegten Allee, die nördliche Häuserfront entfernt wurde. Und, welch eine bautechnische Sünde! in den nachfolgenden Jahren das damals so moderne, aber recht hässliche City-Kaufhaus hingeklotzt wurde. Die architektonisch so vorteilhafte Geschlossenheit des Platzes, die man auf alten Ansichten noch bewundern kann, war unwiederbringlich zerstört.
Was allerdings kam, Jahrzehnte später, war der Podrecca. Der Boris. Der slowenisch-herzegowinisch-altösterreichische Stararchitekt aus Belgrad, Triest und Wien ätzte mit friulanischem Grappa Leobens Geschichte frei, wie die Chronik treffend anmerkt. Das fast mediterran anmutende Konzept eines Versammlungsortes, einer Agora, bietet Stadtarchitektur vom Feinsten.
Und zum Abschluss geht’s wieder in die Kirche. Vielleicht wär , schaut das Ferrarirote scheel zum Trainer auf, ein bisserl mehr Falken doch von Vorteil gewesen? Die Stadtpfarrkirche Franz Xaver erstrahlt, unlängst sorgsam und epochengerecht renoviert, im prächtigsten Jesuitenbarock. Der Stil ist außen und innen durchgezogen, das gibt es in dieser Geschlossenheit kaum wo in Österreich. Nur die spitzen Türme stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Der Landesfürst hat die Burg den Jesuiten übertragen, um von hier die Gegenreformation voranzutreiben. Nahezu die gesamte Bürgerschaft von Leoben bekannte sich um 1570 zum Augsburger Bekenntnis. Die Jesuiten bauten ihre Basilika, unmittelbar an ihr neues Jesuitenkolleg. Gleich neben der kultisch-konfessionell so umstrittenen Johanneskirche. Und sorgten so für eine angepasste, rechtgläubige Bildung der zukünftigen Eliten der Stadt.
Eine halbe Generation vor mir, so mein späterer, sehr geschätzter Geschichtsprofessor an der Grazer Uni, auch ein Leobner, erinnert sich der Trainer, hat den Gymnasialunterricht noch in der Burg erhalten. Und wenn man, wegen Aufmüpfigkeit, hör nur gut zu, liebes Ferrarirote! seinen „Karzer“ abgesessen hatte, durfte man die Burg auch wieder verlassen. Und heim. Zur Mama.
Das Kolleg war gewiss kein Hort der Freiheit, die Jesuiten legten Wert auf unbedingten Gehorsam. Aber Goethe hat die Jesuiten, ganz anders als die Franziskaner, sehr geschätzt. Der war, weiß der Trainer, von „ihrer Klugheit überzeugt“. Diese Übersicht und Tiefsinnigkeit der Jesuiten habe sich, so der Dichterfürst in seiner „Italienischen Reise“, in ihren Bauwerken widergespiegelt. Die hätten „etwas großes Vollständiges“. Ehrfurcht hatte er also, der Goethe. Und Ehrfurcht hat auch der Trainer, der selbstgekrönte Dichterfürst des 21. Jahrhunderts.
Der poesieverfangene Trainer selbst hat dann schon das wesentlich modernere Gymnasium in der Moserhofstraße besucht. Das platzte damals aus allen Nähten. Die Babyboomer wurden schichtweise, die einen am Vormittag, die anderen am Nachmittag, unterrichtet. Im Schuljahr 1973/74, als der Trainer seine Laufbahn als schwächelnder Gymnasiast begann, gab es neun erste Klassen: 1a, 1b und so weiter und so fort - bis 1i. Erst einige Jahre später kam ein weiteres Schulgebäude dazu, das die Platznot behob.
Meine Schulzeit war eine Zeit des Aufbruchs, der Chancengleichheit, der Liberalisierung, kommt der Trainer, irgendwie auch ein Ewiggestriger, ins Schwärmen. Freier Zugang zu den höheren Schulen, freier Zugang zu den Universitäten. Und es muss 1971, 1972 gewesen sein, die Schwester des Trainers ging gerade in die zweite Klasse, ist überhaupt die Revolution ausgebrochen. Die Mädchen durften sogar in Hosen das ehrwürdige Schulgebäude betreten!
1968 und die Folgen. Zeitenwende. Was hätten dazu wohl, schießt es dem Ferrariroten, der alten Ketze, durch den Kopf, die sittenstrengen Jesuiten gesagt? Apokalypse? Jüngstes Gericht?